Unter dem Ostwind. Wilhelm Thöring
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Читать онлайн книгу Unter dem Ostwind - Wilhelm Thöring страница 16
Antonya winkt ab. Sie ist dicht an den Bruder herangetreten, dass einer den Atem des anderen spürt. Sie reckt sich auf die Zehenspitzen und drückt wie eingeschüchtert einen Kuss auf Krystians Stirn.
„Krystian“, sagt sie leise, und dabei nimmt sie sein stoppeliges Gesicht in die Hände. „Krystian, Krystian, wie unselig, dass du von solchen Gedanken besessen bist! Vielleicht reibt ihr euch vergeblich auf, und euer Leben opfert ihr auch vergeblich. Glaube mir, die Zeit wird das lösen, was ihr nicht lösen könnt. Du machst nicht nur dich unglücklich, Krystian, du machst uns alle unglücklich. Unsere Eltern leiden. Sie werden darüber sterben, Krystian ... Wo du gehst, da ziehst du eine Blutspur. Das wird dich verderben, das wird deine Genossen verderben und auch uns. Was habt ihr dann erreicht?“
Und plötzlich schlingt sie ihre Arme so wild um seinen Nacken, dass der Mann erschreckt zurückweicht.
„Ein Versteck, Tonya, nur für diesen Tag. In der Dunkelheit werde ich wieder verschwinden. Helft mir, nur dieses Mal.“
„Damit, dass du hier aufgetaucht bist, hast du uns in eine schlimme Sache hineingezogen, Krystian.“
Krystian hebt die Schultern. „Ja, ich weiß, ich weiß. Was soll ich denn machen, Tonya?“
„Wir müssen etwas tun“, mahnt Stanislaus. „Wegen der Leute müssen wir etwas tun! Komm, Schwager, ich bringe dich in ein Versteck. – Hier hat dich niemand erkannt. Ich werde dich wie einen Schurken, wie einen erwischten Dieb aus dem Haus fahren und allen sagen, dass ich dich der Polizei übergeben werde. Und du, Tonya, sagst es ihnen auch. Komm, Krystian!“
„Tonya, leb wohl! Leb wohl. Grüße die Eltern von mir. Es wird sie freuen, dass du mich lebend gesehen hast. Leb wohl ...“
Stanislaus fasst Krystian beim Handgelenk und führt ihn aus dem Haus. Antonya hält ihn verzweifelt am Arm fest, sie schlingt, als er sich losmachen will, wieder ihre Arme um seinen Nacken und weint laut auf.
„So sei doch vorsichtig!“ mahnt ihr Mann. „Wenn dich jemand hört!“
Der Krystian biegt ihre Arme wie bei einer Puppe nach unten und drängt sich an seinem Schwager vorbei ins Treppenhaus.
Antonya blickt ihnen von der Treppe nach, bis die Tür ins Schloss fällt. Dann geht sie über den Flur, um mit Amalie und Jendrik über diese Angelegenheit zu sprechen.
Vor dem Salon zögert sie. Soll sie, so benommen wie sie sich fühlt, zu den Verwandten gehen? Was soll sie denen sagen?
Sie hört die Kinder, sie hört auch gedämpfte Gesprächsfetzen der Erwachsenen. Zittern überfällt sie; wenn sie doch weggehen und für sich allein sein könnte. Sie öffnet die Tür, ohne es gewollt zu haben.
„Was ist denn passiert?“ ruft Amalie. „Antonya, wie du aussiehst! Was ist denn?“
„Der Krystian“, stammelt sie. „Er ist hergekommen. Nein, er ist gegangen ...“
„Der Krystian?“ fragen beide. „Dein Bruder?“
Antoniya nickt und lässt sich gegen die Wand fallen.
„Warte mal!“ Amalie steht auf, um die Kinder aus dem Zimmer zu bringen.
Jendrik nimmt ihre Hand und streichelt sie. „Es kann nur gut sein, wenn die nicht alles mit anhören“, sagt er und rückt der Schwägerin einen Stuhl hin. „Setz dich, du bist ja wie vor den Kopf geschlagen. Nein ... Also der Krystian ...“ murmelt er fassungslos.
Amalie ist schon eine Weile wieder bei ihnen, da beginnt Antonya stockend zu erzählen. Sie berichtet, wie sie ihn nicht erkannt habe, wie er aussieht, wie besessen er immer noch von dem Gedanken ist, für Polen zu kämpfen.
„Nicht nur zu kämpfen!“ ruft sie. „Zu sterben! Mit den anderen! Er hat ein Attentat auf den Großfürsten versucht, dieser Idiot! David gegen Goliath! Wird das was ändern? Nichts! Ich sage: nichts! Es wird die Situation nur verschlimmern!“
Antonyas Betroffenheit, ihre Angst um den Bruder schlägt in Wut um. Ihre Hände knetend läuft sie durch den Salon. „Was können wir tun? Nichts! Wir können nur hinsehen oder wegsehen. Ein Besessener ist nicht zu retten! Nein, er muss an seiner Besessenheit zugrunde gehen.“
Sie bleibt vor den Verwandten stehen. „Bedenken die Schufte denn nicht, dass ihr Treiben auch über Andere Leid bringt? Oder Unglück? Unsere Eltern ... Die dürfen nichts erfahren. Er will, dass ich sie grüße! Für die Alten ist er schon lange tot! Grüßen ... Kein Wort werde ich davon sagen! Jetzt nicht. Vielleicht später. Aber das weiß ich noch nicht!“
Kapitel 3
„Der Winter dauert aber in diesem Jahr lange“, klagen die Leute.
Um Feuerholz zu sparen, gehen die Armen, die kein Waldstück haben, jetzt schon wieder Tannenzapfen sammeln, mit denen sie, wenn sie abgetrocknet sind, den Ofen heizen. Trotz der an manchen Tagen mörderischen Kälte hacken die alten Männer in den Höfen Holz. Sie lassen das Beil in der Sonne blinken, arbeiten wie wild, dass die Scheite nach allen Seiten spritzen. Später schichten sie die Kloben an den Hauswänden bis zum Dach hin auf, dass die Fenster wie tiefe Augenhöhlen wirken.
Abseits der Straßen und Wege liegt noch alter Schnee, grau und von Flecken bedeckt, als habe eine Krankheit sich ausgebreitet.
Die Krähen, die sich diesmal nicht von den Dörfern verabschieden können, lassen vermuten, dass der Winter sich noch weit bis in den Frühling hineinziehen wird.
Jendrik ist damit beschäftigt gewesen, die Webstube zu vergrößern. Er hat die Wand zwischen der Stube seines Vaters und dem Stall ausgebrochen. Als er den Lehmputz und das Flechtwerk entfernte, da beschlich ihn das Gefühl, etwas Unerlaubtes getan zu haben. Ihm war, als würde er am Vermächtnis seiner Vorfahren fleddern. Seine Frau stand die ganze Zeit schweigend dabei und sah zu. Jendrik hat von ihr Gejammer und Vorwürfe erwartet, die seine Unentschlossenheit, seine Schuldgefühle nur noch verstärken würden. Aber Amalie hat nur zugeschaut und geschwiegen, die Arme über den schweren Leib gelegt.
„Geh hinein“, hat er schließlich gesagt, weil er es nicht mehr ertragen konnte, sie dabei zu haben. „Es ist zu kalt für dich ...“
Ihn ärgert, dass sie schon wieder schwanger ist. Und diesmal hat er es so spät bemerkt. Er musste erst darauf gestoßen werden! Auch darüber ist er verärgert.
Der Gemischtwarenhändler Herschel Sylberstein meinte zu ihm, als er ein Paket Nägel von fünf Zoll kaufte, um damit lose gewordene Balken zusammenzunageln: „Was willst du denn mit diesen langen Nägeln anfangen? Für eine Wiege brauchst du sie nicht. Eineinhalb Zoll vielleicht. Und Leim, Jendrik Erdmann. Aber nicht solche Nägel!“
Am Abend hat er sie dann ausgefragt, er wollte vor allem wissen, wann dieses Kind kommen werde.
„Im frühen Sommer.“
„So, im Sommer. Dann wirst du wieder jemanden brauchen, der dir hilft.“
„Ich brauche niemanden. Ich werde meine Arbeit schon schaffen. Bei den anderen Kindern habe ich auch niemanden gebraucht.“
„Dann