Heine hardcore II - Die späten Jahre. Freudhold Riesenharf
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Trotz ungekürzter Freigabe durch die Freiwillige Selbstkontrolle der Filmwirtschaft sowie der Prädikatisierung ,wertvoll' wird der Film der expliziten Vergewaltigungsszene wegen durch das Amtsgericht München als ,unzüchtig' beschlagnahmt. Die Schändung werde, so der federführende Richter, in einer Ausführlichkeit gezeigt, die zum Verständnis der Filmhandlung absolut nicht erforderlich und daher überflüssig sei – die Untat werde ersichtlich nur zu dem Zweck dargeboten, dem Geschmack eines gewissen Filmpublikums entgegenzukommen und ihm sexuell anreizenden, die Lüsternheit befriedigenden Filmstoff zu bieten. Als die Schlagzeilen über die Polizei-Aktion im nach-eucharistischen München das Publikum rechtzeitig zum Wochenende erreichen, schnellen in den anderen Erstaufführungsstädten, wo der Film noch gezeigt werden darf, die Besucherzahlen sprunghaft in die Höhe. Samstags notieren die Kinobesitzer 90 Prozent Kapazitätsausnutzung, am Sonntagabend 100 Prozent. In Hamburg begutachtet eine Horde Staatsanwälte, von der Münchner Quelle alarmiert, die Jungfrauenquelle in einer Sonderveranstaltung, nimmt aber keinen Anstoß an den 16 Metern Vergewaltigung. Harry kann es dem Münchner Richter nachempfinden, ist nichtsdestoweniger aber der Meinung, dass die Freiheit der Kunst nicht so beschnitten werden darf. Im Kino geht es eben nicht nur um das Verständnis der Handlung. Die Filmkunst lebt von der direkten Veranschaulichung der Dinge und damit vom unmittelbaren Erlebnis des Zuschauers. Würde die Vergewaltigung der Jungfrau nicht so brutal gezeigt, wäre der Eindruck eben nicht mehr derselbe – und damit nicht die drastische Rache des Vaters, Max von Sydows, verständlich, mit der dieser, wie Odysseus einst Penelopes Freier, die drei Brüder, auch den jüngsten mit zwölf, erschlägt. Damit wäre dann aber der ganze Film nicht mehr im Gleichgewicht. Als Karins Leichnam geborgen wird, entspringt aus dem Boden eine Quelle. – Später bekommt der alte Schwede, wie zur Wiedergutmachung, sogar einen jahrelangen Vertrag als Regisseur am Münchner Residenztheater.
Mit sechzehn beeindruckt ihn tief der Film La guerre est finie von Alain Resnais, wieder mit der hinreißend schönen Ingrid Thulin. Diego Mora, gespielt von Yves Montand, lebt als Mitglied der kommunistischen Partei Spaniens im Pariser Exil. Als Verbindung zwischen den spanischen Exilanten in Frankreich und den im Spanien Francos verbliebenen Genossen passiert er unter falschem Namen immer wieder die Grenze. Gerade geht er über Irún nach Frankreich. Bei einem heiklen Identitätscheck kommt er dank einer jungen Frau frei. Nadine, gespielt von Geneviève Bujold, ist die Tochter des Mannes, dessen Identität er fälschlicherweise annahm. Die junge Revoluzzerin ist so fasziniert von ihm, dass sie sich ihm beim ersten Treffen in ihrer Wohnung spontan hingibt – ein poetisch verklärend gefilmter, mit elegischer Musik unterlegter Liebesakt, der im beiderseitigen Orgasmus endet, bei dem der jungen Frau schier die Sinne schwinden. Wie Hedy und Ingrid hat es auch Geneviève darauf, wie man wollüstige Ekstasen simuliert. Danach nehmen sie voneinander Abschied, um sich, da Diego eine feste Geliebte hat, nicht wiederzusehen.
Yves Montand ist ein so überzeugender Verführer, dass man Nadine ihren Orgasmus durchaus abnimmt. Harry ist ziemlich von der Rolle: Also ist die freie Liebe doch möglich? Denn was Diego Mora in Paris kann, das kann ein anderer ein andermal natürlich auch in jeder anderen Stadt. Wie kann ein Mann eine so erotische Ausstrahlung haben, dass er ein Mädchen gleich bei der ersten Begegnung herumkriegt? Warum kann er, der sechzehnjährige Poet, das nicht? Warum ist das nicht auch mit Giselle oder Béa möglich? Warum kommt diese freie Liebe in seinem Leben nicht vor?
Betty, die die Szene später im Fernsehen sieht, nennt Nadine eine ,so eine Freche'. Sogar seinen Lehrer im Kunstunterricht, zu dem er ein besonders vertrautes Verhältnis hat, lotst er zu dem Film ins Kino und gesteht ihm seine pubertäre Verblüfftheit: dass er nicht versteht, wie man eine Frau so einfach verführen kann. Er empfindet seine Schüchternheit wie eine Art männlicher Unterlegenheit …
Viel später erst wird ihm klar, dass es nicht allein an seiner pubertären Unreife lag – es ist überhaupt sein Problem, die Anarchie des Blutes mit der vernunftgeordneten Einrichtung der Welt in Übereinstimmung zu bringen. Tatsächlich dürften solche One-night-stands im wahren Leben, zumal in bürgerlichen Milieus, eine extreme Seltenheit sein. Und es ist eher eine Verzerrung der Realität durch den Film, eine sexuelle Freizügigkeit zwischen Mann und Frau vorzuspielen, die es in Wirklichkeit so nicht gibt. Es ist eine pure poetic license in der Sexualmoral, welche sich die Regisseure erlauben. Aber nicht einmal sein gestandener Lehrer ist geistesgegenwärtig oder beschlagen genug, ihn über den Umstand aufzuklären. Dabei hätte er ihm viel hebephrenische Verwirrung ersparen können.
Tatsächlich nämlich glaubt Harry an Männer von derart erotischer Ausstrahlung, dass sie die Frauen buchstäblich um den Finger wickeln. Gibt es solche One-night-stands in La guerre est finie, dann kommen sie sicher auch sonst noch vor. Errol Flynn, Marlon Brando oder Berühmtheiten wie Pablo Picasso oder populäre Rockstars brauchen nur mit dem Finger zu schnippen, und schon haben sie eine. Ist aber seine Lust bei der einsamen, nur auf Illusion beruhenden Selbstbefriedigung schon so ungeheuer, – um wieviel größer müsste sie, folgert er, dann erst sein, wenn er eine wirkliche Frau besäße! Kommen diese Verführer ständig so auf ihre Kosten, dann ist er ihnen gegenüber unermesslich im Nachteil. Wer aber die Liebeslust versäumt, hat kein Leben. Die Vorstellung wird zu einer fixen Idee – einer jugendlichen Hebephrenie. Wann immer er von einem Mann hört, dem er eine solche Anziehungskraft zutraut, spürt er den Stachel Sexualneid in sich. Einmal bekommt er in einer Kaschemme mit, wie ein junger Kerl von dem amerikanischen Countrysänger Johnny Cash schwärmt. Schon dem Ton seiner Stimme glaubt er entnehmen zu können, dass es ihm mit solchen Männern genauso geht wie ihm selber.
Ein andermal glaubt er bei seiner alten Liebe Hanni dieselbe Bewunderung gegenüber einem verheirateten Religionslehrer zu bemerken und wundert sich fast, dass sie ihm keine sichtbaren Avancen macht. Offenbar traut er seiner Umwelt ungleich mehr Libertinismus zu, als zu welchem er sich selbst versteht.
Erst viele Jahre später erkennt er, dass weder eine solche erotische Anziehungskraft noch der entsprechende Libertinismus der Realität entsprechen. Die bürgerliche Welt ist, was sexuelle Liberalität betrifft, extrem konservativ. Kurzum, Renais' Liebesszenen sind künstlich stilisiert und übertrieben. Und nicht nur die seinen: Es ist überhaupt die poetic license des Films – und die Regisseure machen desto heftiger Gebrauch davon, je näher wir der Gegenwart kommen. Desungeachtet ist Yves Montand nicht von schlechten Eltern. Während des Drehs von Let's make love vernascht er Marilyn Monroe, die noch mit Arthur Miller, einem bedeutenden Dramatiker, verheiratet ist, von der Bettkante weg. Harry wundert sich über den mangelnden Respekt des Schauspielers gegenüber dem berühmten Dichter. Wusste er vielleicht, dass die Ehe der beiden nur noch auf dem Papier bestand? Auf die Frage von Reportern, wie sie dazu steht, meint seine Frau Simone Signoret nur: Marilyn habe einen guten Geschmack. Noch mit 67 macht er der 28jährigen Carole Amiel ein Kind, Valentin.
Ähnliches hört man von dem mexikanischstämmigen Anthony Quinn. Der hat von fünf Frauen 13 Kinder. Noch im Alter von 82 bis 86 hat er mit seiner früheren Sekretärin zwei Kinder. Harry denkt an Thersites in Troilus und Cressida: Nothing but lechery! All incontinent varlets! Nichts als Unzucht! Lauter geile Kerle!
Um zu testen, was er sich alles leisten kann, oder wie weit er gehen kann, bringt er ein Exemplar des Magazins Playboy eines Freundes mit in die Schule, in dem sich in einer Fotoserie die bezaubernde Silva Koscina, eine italienische Schauspielerin jugoslawischer Herkunft, nackt am Swimmingpool aalt. Gibt es eine reizendere Susanna oder Bathseba im Bade?