Der Deutsch-Französische Krieg: 1870/71. Jochen Oppermann
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In Berlin beobachtete Bismarck die Entwicklung in Madrid genau. Grundsätzlich war Preußen froh, dass die franzosenfreundliche Königin ihren Thron verloren hatte. Der neue starke Mann Spaniens, Ministerpräsident Juan Prim (1814–1870), galt Preußen gegenüber als durchaus freundlich gesinnt. Für Prim kamen zunächst einige Kandidaten für die Krone in Frage. Der aus dem Hause Sachsen-Coburg stammende Ferdinand II. von Portugal (1816–1885), der Herzog von Montpensier, Antoine Marie Philippe Louis von Orléans (1824–1890), oder Prinz Amadeus (1845–1890), Herzog von Aosta, waren im Gespräch und wurden von Napoleon III. abgelehnt und von Frankreich aus publizistisch bekämpft (ebd., S. 45). Doch der Thronkandidat, der nun ernsthaft diskutiert wurde, ließ das Pariser Blut völlig in Wallung geraten: Prinz Leopold von Hohenzollern-Sigmaringen (1835–1905).
Prinz Leopold war mit einer portugiesischen Prinzessin verheiratet und mit Napoleon III. durch seine Großmutter sogar enger verwandt als mit dem preußischen Herrscherhaus. Er entstammte der katholischen Linie der Hohenzollern mit ihrem Stammsitz Sigmaringen und damit aus einem Land, das auf den spanischen Thron keine antifranzösische Politik exportieren würde. Dennoch wirkte der Name »Hohenzollern« wie ein rotes Tuch auf die Franzosen – natürlich wusste dies Bismarck. Für ihn war es die Gelegenheit, seine Geheimdiplomatie in Madrid von der Leine zu lassen (Howard, S. 48).
Bereits im 16. Jahrhundert hatte sich Frankreich durch die Habsburger eingekreist gesehen. Eine spanische Hohenzollernlinie rief die Erinnerung an die spanische Habsburgerlinie wieder wach und bereitete der französischen Regierung schlaflose Nächte. Als das erste Mal der Name Leopold in Spanien auftauchte, lehnten die Sigmaringer im September 1868 eine Kandidatur entschieden ab. Das hatte vor allem Gründe, die in Spanien selbst lagen. Alles andere als verlockend erschien der Thron dank der immensen wirtschaftlichen und sozialen Schwierigkeiten, die durch die Revolution nicht besser geworden waren. Auch die Aussicht, mit Frankreich an der unmittelbaren Grenze eine unversöhnliche Großmacht zu haben, die keine Gelegenheit auslassen würde, dem Land Schwierigkeiten zu bereiten, war alles andere als verlockend. Doch nachdem die anderen Kandidaten ebenfalls dankend oder auf Druck Napoleons abgelehnt hatten, wurde das Angebot im Februar 1870 abermals durch die spanische Regierung nach Sigmaringen übermittelt (Gall, 1980, S. 423). Nun, zwei Jahre nach dem ersten Angebot, bei dem Bismarck auf Rücksicht Frankreichs Zurückhaltung geübt hatte, gab er den zögernden Sigmaringern zu verstehen, dass sie das Angebot annehmen sollten. Berlin sah es mal wieder an der Zeit, Frankreich zu provozieren. Auch machte Madrid Druck, sodass Bismarck die Thronfolgefrage gegen den Willen seines Königs vorantrieb (Howard, S. 49). Wilhelm I. hatte aber keinerlei Interesse daran, einen katholischen Verwandten auf dem spanischen Thron zu sehen. Als Oberhaupt der Hohenzollern musste er die Einwilligung zu einer Kandidatur geben, was er weder tat noch verweigerte. Er gab nur zu verstehen, dass er, wenn Leopold aus tiefster Überzeugung gewillt sei, den Thron zu besteigen, ihm nicht im Weg stehen würde. Doch – wie gesagt – Leopold wollte eigentlich nicht (Dittrich, Bismarck, S. 15 f.).
Am 9. März 1870 verfasste Bismarck einen Bericht an seinen König, der diesem die Vorteile eines Hohenzollern auf dem spanischen Thron darlegte. Sechs Tage später erläuterte er diese nochmals persönlich vor dem König, dem Prinzen, geladenen Sigmaringern und Moltke. Jedoch gelang es weder jetzt noch in den folgenden Wochen, den König davon zu überzeugen, seine Zusage zu geben. Und ohne das Einverständnis des Königs konnte Leopold den Thron nicht besteigen. Deswegen wurde am 20. April 1870 die Ablehnung des Angebotes an die spanische Regierung übermittelt. Damit konnte Frankreich durchaus zufrieden sein und die gefürchtete Einkreisung war vom Tisch. Doch nicht lange!
Im Mai wurde der persönliche Mitarbeiter und Freund Bismarcks, Lothar Bucher (1817–1892), aktiv, indem er den spanischen Ministerpräsidenten bat, ein erneutes Angebot abzugeben. Der Vater Leopolds, Fürst Karl Anton (1811–1885), war zwar wie sein Sohn dem spanischen Thron gegenüber abgeneigt, aber die Aussicht, der eigenen Dynastie eine weitere Krone zuzuführen, war sehr verlockend (Dittrich, Bismarck, S. 32). Ende Mai erklärten beide, wenn es im preußischen Staatsinteresse sei, würden sie die Krone Spaniens annehmen. Inwieweit Bismarck in diese Gedankenspiele im Hause Sigmaringen involviert war, ist ungewiss. Jedenfalls nahm er diese neuerliche Wendung dankbar an und instruierte Bucher, der sich in Madrid befand (Gall, 1980, S. 428). Nur von Spanien konnte ein abermaliges, das nunmehr dritte Angebot kommen, da nach der Ablehnung vom 20. April keine offizielle Wiederaufnahme der Verhandlungen von Preußen ausgehen konnte. König Wilhelm I. wurde von Bismarck die Zusage abgerungen, bei einer abermaligen Anfrage zuzustimmen (Bremm, 2019, S. 38). Bismarck zog sich daraufhin aus den Verhandlungen zurück, und alle spanischen Anfragen wurden nach Sigmaringen weitergeleitet. In Berlin harrte man der Dinge, die da aus Paris kommen sollten.
Auf der persönlichen Ebene war ein spanischer König Leopold für Napoleon III. gar nicht schlimm. Man kannte sich von gemeinsamen Jagdausflügen aus Jugendzeiten und Leopold war ein freundlicher und besonnener Mann, der in einem heruntergewirtschafteten und von sozialen Spannungen erschütterten Spanien ganz andere Sorgen haben würde, als Frankreich zu schaden (Kleinmann, S. 147). Leopold würde also hart und bieder arbeiten müssen auf seinem Thron, fernab von Ambitionen nach militärischer Ehre oder neuen europäischen Mächtekonstellationen. Napoleon III. soll den jungen Mann sogar bemitleidet und in Bezug auf Frankreich intern gesagt haben, dass »ein Hohenzoller auf dem spanischen Thron seine ›Rache für Sadowa‹« sei (zitiert nach: Willms, S. 247). Für den Kaiser selbst mochte dies persönlich alles halb so schlimm sein, doch er musste Frankreich verkörpern, und das Volk sah den feinen Unterschied nicht zwischen einem katholischen Hohenzollern aus dem Süden und einem protestantischen aus dem Norden, zwei Linien, die seit vielen Jahrhunderten ihre eigenen Wege gingen.
Napoleon III. hatte sich erst durch ein Plebiszit Anfang Mai seine im Schwinden begriffene Macht als Kaiser erneut gesichert (Bremm, 2019, S. 40). Derart vom Volk bestätigt, traute sich die neue Regierung unter Ministerpräsident Émile Ollivier (1825–1913) eine Kraftprobe mit den Preußen durchaus zu. Man sah insbesondere die Möglichkeit, einen ähnlich demütigenden Coup zu landen, wie er den Preußen mit der »Luxemburg-Frage« geglückt war. Die Hardliner um die Kaiserin und den am 15. Mai ernannten neuen Außenminister, Herzog Antoine de Gramont (1819–1880), drängten zu entschlossenem Handeln.
Es ist bis heute Gegenstand intensiver Debatten, inwieweit Bismarck mit einem Krieg im Frühjahr rechnete, oder ob er eine weitere Demütigung Frankreichs forcieren wollte. Zumindest mit der Ernennung Gramonts musste Bismarck mit einem Krieg rechnen (Dittrich, Ursachen, S. 76). In Berlin sah man zunächst keinen echten Kriegsgrund in dieser Affäre. Bismarcks Absicht könnte vielmehr gewesen sein, Spanien als engen Partner Frankreichs abzulösen und näher an Preußen zu binden. Dies hätte Frankreich dazu gebracht, seine Militärpräsenz Richtung Rhein auszudünnen, um Truppen an die Pyrenäen zu verlegen. Frankreich rechnete mit 200 000 Mann, die in diesem Fall am Rhein fehlen würden (Zahlen nach: Hawig, S. 325). 1866 war Bismarck ähnlich verfahren, als er den Bruder Leopolds, Karl (1839–1914), zum Fürsten von Rumänien ausrufen ließ, womit man ein Druckmittel gegen Österreich erhalten hatte. Doch 1870 gelang ein solcher Schachzug gegen Frankreich nicht (Baumgart, S. 397).
Vom 3. bis zum 5. Juli bemühte sich die französische Regierung, Hintergründe und Absichten der erneuten Hohenzollernkandidatur in Erfahrung zu bringen, und erhielt aus Preußen nur die Mitteilung, dass man damit nichts zu tun hätte (Ohnezeit, S. 58). Paris wusste natürlich, dass dies eine Unwahrheit war. Der neue Außenminister Gramont gelangte nun zu der Überzeugung, dass nur eine harte Haltung gegenüber Preußen den französischen Interessen entsprechen