Inselgötter. Reinhard Pelte
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Die jungen Leute hatten ihn überrascht. Dass er Polizist war, schien sie nicht zu stören. Sein Alter auch nicht. Beides wurde niemals erwähnt. Jung war ihnen willkommen als neuer Mitbewohner mit ausreichend Geld, ohne Marotten, ruhig und unauffällig.
Sie waren zu viert. Ein Pärchen, ein Computerfreak und er. Das Pärchen, Inka und Sven, waren in erster Linie mit sich selbst beschäftigt. Sie studierten Pädagogik und Medienwissenschaft. Es gab oft Streit, mitunter auch regelrechten Krieg. Ihrer Zuneigung schien das aber keinen Abbruch zu tun.
Der Älteste von den dreien war ein Nerd. Er hieß Nils. Ein munteres, quirliges Kerlchen, der mit einem Hochleistungs-Laptop verheiratet war. Die Ehe war glücklich, das sah man dem Typen an. Seine Angeheiratete war unterhaltsam, geduldig, amüsant, gefügig, spannend, belesen, oft überraschend, immer genügsam und nur manchmal lästig. Aber damit konnte er offensichtlich sehr gut leben. Viel wichtiger war, dass sie ihn nie ermahnte, zum Friseur gehen zu müssen, dass sein Hemd in die Wäsche gehörte und er dringend eine Dusche brauchte. Von ihr kamen keine überflüssigen Kommentare, keine Sticheleien, dass es in seinem Zimmer muffelte, dass dringend sauber gemacht werden musste oder dass die Müllabfuhr dran war. Wen störte das überhaupt? Die absolute Krönung war, dass seine Braut wenig Kosten verursachte. Ein Teil der anfallenden Verpflichtungen waren im Mietpreis inbegriffen.
Tomas Jung mochte seine Mitbewohner. Sie ließen ihn in Ruhe. Er fühlte sich in ihrer Gegenwart nie gedrängt, Konversation machen, nett sein oder Hilfe leisten zu müssen. Sie lebten ihr Leben und er das seine.
Wenn Tomas Jung überhaupt etwas an ihnen auszusetzen hatte, dann waren es die Zustände in Bad und Küche. Er goss sich hin und wieder einen Tee auf, brühte sich einen Kaffee oder stellte Joghurt und Obst in den Kühlschrank. Darüber hinaus beanspruchte er die Küche nicht. Deswegen war es ihm egal, wie es da aussah. Sein Ordnungssinn litt zwar, aber es fiel ihm nicht schwer, über das Chaos hinwegzusehen.
Anders im Bad. Seine Toilettenartikel verwahrte er in seinem Zimmer und trug sie jedes Mal ins Bad und wieder zurück. Er hatte sofort einen Toilettenreiniger, einen Abzieher für die Dusche und ein Mikrofasertuch angeschafft. Auch reinigte er die Abflüsse regelmäßig. Anfangs hatten ihn dabei Ekelgefühle befallen. Inzwischen fand er das ganz in Ordnung, sozusagen wie einen nützlichen Beitrag zum Gedeihen einer blühenden Wohngemeinschaft. Seine Mitbewohner verloren kein Wort darüber, sabotierten seine Neuerungen aber auch nicht. Eines Tages registrierte er, dass sich noch jemand nützlich gemacht hatte. Er empfand einen stillen Triumph. Für ihn war es ein wichtiger Sieg, den er ein paar Schritte weiter, im Restaurant im alten Speicher, allein mit sich selbst gefeiert hatte. Hier gab es die besten Steaks in Flensburg und einen Rotwein aus Apulien, der ihn jedes Mal ins Schwärmen brachte. Er verströmte die Glut und die Kraft des tiefen Südens. Wenn er Wein über seine Zunge gleiten ließ, verlor er sich gerne in Fantasien über Weinanbau. Winzer, das wäre auch etwas für ihn gewesen, träumte er dann. Rebstöcke faszinierten ihn. Die Pflanzen waren wirklich einzigartig. Jahr für Jahr holten sie Geschmack und Kraft aus einem armseligen Boden, der seit Jahrhunderten der erbarmungslosen Sonne des Mezzogiorno ausgesetzt gewesen war und längst hätte am Ende sein müssen.
*
Tomas Jung bewohnte ein karges Zimmer. Zwölf Quadratmeter auf Holzdielen, ein Tisch, ein Lehnstuhl, ein Bett, ein Schrank. Es erinnerte ihn fatal an das Zimmer, in dem er seine Jugend verbracht hatte. Nur hatte es da noch ein paar Bilder, Bücher und ein Radio gegeben. Hier nicht. Ein Provisorium. Mehr sollte es nicht sein. Seine Verletzlichkeit hatte ihn hierhergetrieben, nicht die Absicht, sich von Svenja zu trennen. Der Gedanke daran war ihm so fern wie der, sich einen Arm abzuhacken.
Insgeheim verfluchte er seine Feinfühligkeit. Sie machte Probleme. Ihm gefiel das nicht, obwohl er sich über die Jahre angewöhnt hatte, sie als ein seltenes Geschenk zu betrachten. Sie brachte ihm auch Vorteile. Gerade in seinem Beruf.
Er war Leiter des S-Kommissariats bei der Bezirkskriminalinspektion Flensburg, dem Dezernat für unaufgeklärte Kapitalverbrechen. Der Blick aus seinem Zimmer ging in den Hinterhof, nicht nach vorne, auf den Willy-Brandt-Platz und den Hafen. Der Hinterhof passt viel besser zu mir, hatte er gleich beim ersten Mal gedacht. Die Aussicht ins Dahinter war seine Sache, nicht der Glanz, mit dem sich die Menschen ins beste Licht zu setzen bemühten. Die allgegenwärtige Sucht nach Glamour und Glanz war für Jung Ausdruck eines Mangels, eines verzweifelten Bettelns um Aufmerksamkeit, die vielleicht irgendwann zuvor hätte gestillt werden können, aber nie gestillt worden war und die in Zukunft auch nie gestillt werden würde. No chance. Absolutely no chance. So sah Tomas Jung das.
Holtgreve
Ein Klopfen an der Tür riss ihn aus seinen Gedanken.
»Ja«, sagte er laut und drehte sich um.
Holtgreve betrat den Raum. Es war noch nicht lange her, dass Jung ihm lieber aus dem Weg gegangen war. Seinen Chef sehen oder sprechen zu müssen, hatte ihn Überwindung gekostet. Ihr Verhältnis hatte sich aber nach der Attacke eines Seemanns auf Jung radikal verändert.1 Jung hatte den Mann des Mordes an einer Kadettin beschuldigt. Daraufhin hatte der sich mit einem Fischmesser auf ihn gestürzt. Jung war dem Tod gerade noch einmal von der Schippe gesprungen. Seitdem duzte er sich mit seinem Chef. In der Folgezeit hatte Holtgreve sich ungewohnt kooperativ und hilfsbereit gezeigt.
Jung begrüßte ihn freundlich.
»Moin, Henning. Komm rein und setz dich.«
Diese Aufforderung hätte ein Besucher von außerhalb mit Sicherheit als Zumutung empfunden. Jungs Büro glich einer Zelle, allerdings einer geräumigen Zelle. In den Augen seiner Frau war das Ambiente schäbig. Sie hatte ihn des Öfteren gefragt, wie er es aushielte, so zu arbeiten. Ein Aktenschrank, ein Aktenbock, ein Bürosessel mit verstellbarer Sitz- und Rückenlehne und ein Besucherstuhl waren neben dem Schreibtisch die einzigen Möbelstücke in Jungs Büro. Die spärliche und in vielen Jahren abgenutzte Möblierung ließ den Arbeitsraum leer und karg erscheinen. Es hätte nicht gepasst, Bilderschmuck oder andere dekorative Elemente darin unterzubringen. Früher hatte Jung sich über die armselige Ausstattung aufgeregt, heute schätzte er es, sich ohne Ablenkung auf seine Arbeit konzentrieren zu können.
»Moin, Tomas. Ich hab nicht viel Zeit. Gleich ist Lagebesprechung. Du weißt schon. Ich …«
»Was kann ich für dich tun?«, kürzte Jung die Prozedur ab.
»Ich möchte dich bitten, mit Kopper-Carlson Kontakt aufzunehmen.«
*
Kopper-Carlson! Gütiger Gott! Der auch noch, fluchte Tomas Jung lautlos. Kopper war ein Fall für sich. Mittelgroß, hager, rotblond. Er gab sich betont ruhig und besonnen und trat in der Inspektion auf als der konservative Hanseat mit einer Vorliebe für britisches Understatement. Zu diesem Zweck hatte er sich einen Gentleman-Schnauzer wachsen lassen und stellte seine Armbanduhr 20 Minuten nach. Er las in jeder freien Minute renommierte deutsche und englische Zeitungen. Es fehlte nur noch, dass er Pfeife geraucht hätte, um das Bild des überlegenen, coolen Ermittlers so perfekt rüberzubringen, dass es zu seiner eigenen Karikatur getaugt hätte. Stattdessen löffelte er Joghurt, trank Tee aus großen Bechern, pellte Bananen und kaute geräuschvoll seine mitgebrachten Äpfel. Er haderte mit der Welt, in der ihm noch nie jemand begegnet war, der in der Lage gewesen wäre, seine wahre Klasse zu erkennen