Inselgötter. Reinhard Pelte
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Kopper-Carlson erstarrte in empörtem Schweigen. Schließlich erhob er sich und marschierte wortlos zum Ausgang. Jung folgte ihm und grinste still vor sich hin.
*
Den Rest des Vormittags verbrachte Jung mit dem Studium der Akten. Insgesamt waren es vier Ordner. Die Tatsache, dass Niebüll der Ort ihres letzten Lebenszeichens vor der Weiterreise nach Sylt war, sprang ins Auge. Insofern war nachvollziehbar, dass Kopper-Carlson genau an dieser Stelle angesetzt hatte. Seine Bemühungen, Augenzeugen aufzutreiben, waren umfassend gewesen. Das musste Jung anerkennend einräumen. Alles in allem waren die Ergebnisse jedoch enttäuschend. Allein ein einziges Detail schien bedeutsam. In allen Fällen war das Zugpersonal dasselbe gewesen. Kopper-Carlson hatte die Zugbegleiter ordentlich in die Mangel genommen und ihr Leben akribisch durchleuchtet. Aber er konnte ihnen keine Verbindung zu den Vermissten nachweisen. Sie konnten sich an die Vermissten nicht einmal erinnern. Nach Aktenlage waren sie ihnen also absolut fremd. Das Ganze war ein einziges großes Rätsel.
Jung dachte darüber nach, wo sie suchen mussten, um einen neuen Ansatzpunkt zu finden. Irgendwo musste er sein. Das war so sicher wie das Amen in der Kirche. Er stellte sein Grübeln nach kurzer Zeit ein. Holtgreve hatte ein Interesse gezeigt, das er sonst nicht an den Tag zu legen pflegte. Er musste Gründe dafür haben. Sicherlich war es klüger, das Gespräch beim Mittagessen abzuwarten. Holtgreve würde sich erklären. Jung war sich darin ziemlich sicher, obwohl ihr Vertrauensverhältnis noch nicht so lange währte, als dass er sich blind auf seinen Chef verlassen hätte. Vielleicht hatte er nach ihrer Unterredung Informationen, die ihm halfen, in die richtige Richtung zu denken.
1 s. »Mordsee«
2 s. »Inselroulette«
Mittagessen
Jung sah auf die Uhr. Nur noch ein paar Minuten bis Mittag. Tiny müsste schon längst gelandet und auf dem Weg an die Algarve sein. Hoffentlich hielt er sich an die Absprache und machte keinen Blödsinn. Ihm war alles zuzutrauen. Manchmal sogar verblüffend Schlaues. Aber bitte nicht jetzt, seufzte Jung. Berechenbarkeit war ihm lieber. Der Kerl ging ihm auf den Geist. Er passte ihm absolut nicht in den Kram. Was mach ich mit ihm, wenn er hier antanzt?, fragte er sich.
Jung nahm seine alte Lederjacke vom Haken und stieg das Treppenhaus hoch in den obersten Stock. Die Tür zu Holtgreves Bürosuite stand wie immer offen. Als er Jung auf dem Flur hörte, rief er ihn zu sich herein. Jung hatte stets das Gefühl, als hocke sein Chef den ganzen Tag mit gespitzten Ohren hinter seinem Schreibtisch, um auch ja nichts zu verpassen, nicht einmal das flüchtige Rascheln einer imaginären Maus in den Wänden des alten Gemäuers. Früher hatte ihn das gestört, jetzt nicht mehr. Holtgreve las in einem Papier, das er, die Ellenbogen auf die Schreibunterlage gestützt, vor sich in den Händen hielt.
»Ich bin gleich so weit. Sekunde«, murmelte er, ohne aufzusehen.
Das Büro war etwas größer als die Büroräume auf den unteren Fluren. Das Mobiliar unterschied sich nicht von dem der anderen. Etwas neuer vielleicht, nicht so abgenutzt wie beim Volk unter ihm. Holtgreve umgab sich nicht mit Protz und Prunk. Jung hatte das auch früher schon registriert, aber nie bewertet. Heute buchte er die ausgestellte Bescheidenheit auf das Pluskonto des Leitenden.
»Okay. Ich bin so weit. Gehen wir«, meldete sich Holtgreve, erhob sich und griff seinen Mantel von der Garderobe. Er hatte es eilig. Jung folgte ihm wortlos.
Die Walzenmühle lag in Flensburgs Neustadt. Der Stadtteil begann am Nordertor, dem historischen Wahrzeichen Flensburgs. Nordwärts, rechts und links der Apenrader Straße, erstreckten sich ein paar Straßenzüge mit Mietskasernen aus dem Anfang des letzten Jahrhunderts. Das Gewerbegebiet entlang der Förde gehörte ebenfalls zur Neustadt. Früher gab es dort einen großen Schlachthof mit Restaurant. Heute lagen noch die Werft der Flensburger Schiffbau-Gesellschaft und die Stadtwerke auf dem Areal. Die Neustadt galt lange als der Hinterhof der Stadt, in dem sich Türken angesiedelt und ihre Basare und Teestuben aufgemacht hatten. Seit geraumer Zeit entwickelte sich das Viertel zu einer lebendigen Multi-Kulti-Gemeinde, die bereits die Große Straße südlich des Nordertors erfasst hatte. Die Walzenmühle war vor einigen Jahren entkernt und in ein Dienstleistungszentrum umgewandelt worden. Im Erdgeschoss hatte das Weinkontor Roberto Gavin Platz gefunden. Ein Bistro wurde dem Kontor angegliedert.
Sie hatten es nicht weit. Holtgreve war gut zu Fuß und Jung hatte Mühe, ihm zu folgen. Er war kurz davor, ihn zu bitten, etwas langsamer zu gehen. An eine Unterhaltung war nicht zu denken. Nach einer knappen Viertelstunde saßen sie an ihrem Tisch und studierten die Speisekarte.
»Du hast es aber mächtig eilig, Henning«, bemerkte Jung nach einer Verschnaufpause.
»Ja, entschuldige. Mir geht so viel durch den Kopf. Ich muss höllisch aufpassen. Die Lage ist prekär.«
»Prekär?«, fragte Jung erstaunt. »Darf ich fragen, warum?«
»Ich komme gleich dazu. Lass uns zuerst bestellen.«
Holtgreve winkte der Bedienung. Er entschied sich für Tagliatelle in Rotweinsauce mit Paprika und gebratenem Schweinefilet. Jung nahm Muschelnudeln in Proseccorahm mit Scampi und Zucchini.
»Was wünschen die Herren zu trinken?«, fragte die Bedienung.
»Mach du das, Tomas. Du bist doch der ›King of wines‹.«
Woher hat er das denn, dachte Jung und studierte angestrengt die Karte.
»Wir nehmen eine Flasche Primitivo aus dem Mezzogiorno«, entschied er schließlich. »Er passt zu den Tagliatellen.«
»Gute Wahl, mein Herr.« Die Bedienung deutete eine Verbeugung an und ließ sie allein.
»Du wolltest mir etwas erklären, Henning«, leitete Tomas Jung das Gespräch ein.
»Richtig.« Holtgreve hielt inne und schien im Zweifel, wie er fortfahren sollte.
»Hat es etwas mit den Vermissten zu tun, um die ich mich kümmern sollte?«, half Jung ihm auf die Sprünge.
»Genau. Es gibt da eine Besonderheit, die mir Kopfzerbrechen macht. Es könnte eine Menge davon abhängen, wie wir mit der Sache umgehen. Eine delikate Angelegenheit, Tomas. Höchste Alarmstufe.«
Jung wusste mit den ominösen Andeutungen seines Chefs nichts anzufangen und schwieg. Schließlich schien Holtgreve gefunden zu haben, wonach er gesucht hatte.
»Kennst du eigentlich einen von den Vermissten? Hast du ihre Namen schon einmal gehört oder von ihnen in der Zeitung gelesen?«
»Nein? Sollte ich?« versetzte Jung.
»Der Letzte auf der Liste ist der Sohn eines einflussreichen Mannes. Er war Vorstand eines, nach eigenem Selbstverständnis, mächtigen Geldinstitutes. Ich würde eher sagen, eines von regionaler Bedeutung. Trotzdem ein Mann mit Beziehungen«, sagte Holtgreve mit einer Mischung aus Respekt und Herablassung.
»Wer? Der Vater oder der Sohn?«
»Der Vater.« Holtgreve schwieg und sah Jung in die Augen. Jung las darin die Erwartung, dass er die richtigen Fragen stellte.
»Der Letzte auf der Liste heißt Jens Eilers«, bemerkte