Honoré de Balzac – Gesammelte Werke. Honore de Balzac
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»Ich bekomme eine Gänsehaut, wenn du nur seinen Namen erwähnst. Wenn du gewußt hättest, was er aus dir machen wollte, hättest du über die gestohlenen dreitausend Franken nicht geschwiegen, denn ich habe erraten, wie die Sache arrangiert worden ist. Hättest du ihn der Polizei angezeigt, dann hättest du vielleicht vielen Leuten einen guten Dienst erwiesen.«
»Was beabsichtigte er denn aus mir zu machen?«
»Ach, nichts. Wenn du heute auf mich hören wolltest, dann würde ich dir den guten Rat geben, Birotteau, deinen du Tillet beiseite zu lassen.«
»Würde man es aber nicht merkwürdig finden, wenn ich einen Kommis, für den ich für die ersten zwanzigtausend Franken, mit denen er sein Geschäft angefangen hat, Bürgschaft geleistet habe, nicht einlade? Geh, laß uns gütig sein um des Guten willen. Übrigens hat sich du Tillet auch vielleicht gebessert.«
»Hier wird ja nun wohl alles drunter und drüber gehen.«
»Was redest du da von drunter und drüber? Alles wird hier wie am Schnürchen gehn. Hast du denn schon vergessen, was ich dir über die Treppe und das Mieten der Räume im Nachbarhause, nach der Abmachung mit dem Schirmhändler Cayron, gesagt habe? Wir müssen beide morgen zu Herrn Molineux, seinem Hauswirt, gehn, und ich habe morgen so viel Geschäfte wie ein Minister …«
»Du hast mir mit deinen Projekten den Kopf ganz verwirrt,« sagte Konstanze, »ich finde mich nicht mehr zurecht. Und im übrigen will ich jetzt schlafen, Birotteau.«
»Also guten Morgen«, sagte er. »Höre doch, ich sage dir guten Morgen, denn es ist schon Morgen, mein Liebling. Ach, sie schläft schon, das gute Herz. Ja, du sollst sehr reich werden, oder ich will nicht mehr Cäsar heißen.«
2
Ein kurzer Blick auf das frühere Leben des Ehepaars wird den Eindruck bestätigen, den der liebevolle Streit der beiden Hauptpersonen dieser Erzählung hervorrufen muß. Diese Schilderung der Sitten des Detaillistenstandes wird gleichzeitig erklären, durch welche eigenartigen Umstände Cäsar Birotteau Beigeordneter und Parfümhändler, früherer Offizier der Nationalgarde und Ritter der Ehrenlegion geworden war. Wenn man das innerste Wesen seines Charakters und die Triebfedern zu seinem Aufstieg klar erkennt, wird man auch verstehen, weshalb kommerzielle Unglücksfälle, die selbst bedeutende Köpfe überwältigen, für kleine Geister zu unheilbaren Katastrophen werden. Geschehnisse können nie abgelöst für sich beurteilt werden, ihre Auswirkungen hängen völlig von den betroffenen Individuen ab: das Unglück ist für das Genie ein Schemel, für den Christen ein Bad, für den gewandten Mann ein Schatz, für die Schwachen ein Abgrund.
Ein Landarbeiter aus der Umgegend von Chinon, namens Jacques Birotteau, heiratete das Kammermädchen der Dame, in deren Weinberg er arbeitete; er hatte drei Söhne, aber bei der Geburt des jüngsten starb die Frau und der arme Mann überlebte sie nicht lange. Die Herrin, die an ihrem Kammermädchen sehr gehangen hatte, ließ Franz, den ältesten Sohn des Arbeiters, mit ihren Söhnen zusammen erziehen und brachte ihn dann in einem Seminar unter. Zum Priester geweiht, mußte sich Franz Birotteau während der Revolution versteckt halten und das Leben der herumirrenden Priester, die den Eid nicht leisten wollten, führen, auf die man wie auf wilde Tiere Jagd machte und die um der geringsten Sache willen hingerichtet wurden. Zur Zeit, da diese Geschichte beginnt, war er Vikar an der Kathedrale von Tours und hatte diese Stadt nur ein einziges Mal verlassen, um seinen Bruder Cäsar zu besuchen. Der Lärm in Paris betäubte aber den guten Priester dermaßen, daß er sein Zimmer nicht zu verlassen wagte, die Kabriolets »Halbchaisen« nannte und über alles staunte. Nach einer Woche kehrte er nach Tours zurück und gelobte sich, niemals wieder die Hauptstadt aufzusuchen. Der zweite Sohn des Weinarbeiters, Johann Birotteau, erlangte, zum Militär eingezogen, schnell den Rang eines Hauptmanns während der ersten Revolutionskriege. In der Schlacht an der Trebbia ließ Macdonald Freiwillige vortreten, die eine Batterie stürmen sollten. Der Hauptmann Johann Birotteau ging mit seiner Kompagnie vor und fiel. Das Schicksal der Birotteaus wollte offenbar, daß sie überall, wo sie Fuß faßten, entweder von den Menschen oder von den Ereignissen zugrundegerichtet werden sollten.
Das letzte Kind war der Held dieser Erzählung. Als Cäsar mit vierzehn Jahren lesen, schreiben und rechnen konnte, verließ er seine Heimat und wanderte zu Fuß nach Paris, mit einem Louisdor in der Tasche, um hier sein Glück zu machen. Auf die Empfehlung eines Apothekers in Tours fand er ein Unterkommen als Hausdiener bei den Ragons, Parfümeriehändlern. Cäsar besaß damals ein Paar mit Eisen beschlagene Schuhe, eine Hose, blaue Strümpfe, eine geblümte Weste, eine Bauernjacke, drei grobe Hemden aus guter Leinwand und seinen Reisestock. Wenn auch sein Haar wie das eines Chorknaben geschnitten war, so hatte er doch die festen Knochen eines Tourainers; wenn er sich manchmal der heimatlichen Faulheit überließ, so wurde das wieder wettgemacht durch das Verlangen, sein Glück zu machen; und wenn ihm auch Geist und Erziehung fehlten, so besaß er dafür einen geraden Sinn und ein von seiner Mutter ererbtes zartes Empfinden, einem Wesen, das, nach dem Tourainer Ausdruck, ein »goldenes Herz« hatte. Cäsar erhielt Essen, sechs Franken Lohn monatlich und eine schlechte Matratze auf dem Boden in der Nähe der Köchin; die Kommis, die ihn zum Einpacken und Gängebesorgen, zum Fegen des Ladens und der Straße anlernten, machten sich über ihn lustig, während sie ihn ausbildeten, wie das in den Ladengeschäften üblich ist, wo die Neckerei ein Hauptelement der Lehrlingszeit bildet; Herr und Frau Ragon kommandierten ihn wie einen Hund. Niemand nahm Rücksicht auf die Ermüdung des Lehrlings, wie schauderhaft ihn auch abends die vom Pflastertreten gequetschten Füße und die wie zerbrochenen Schultern schmerzten. Diese rauhe Lehre des »Jeder für sich«, das Evangelium aller Großstädte, ließ Cäsar das Leben in Paris sehr hart finden. Am Abend weinte er, wenn er an die Touraine dachte, wo der Bauer in Ruhe arbeitet, wo der Maurer den Stein erst zwölfmal herumdreht, bevor er ihn einsetzt, und wo die Faulheit so verständig mit der Arbeit verwoben ist; aber er schlief ein, ohne Zeit zu haben, ein Ausrücken zu überlegen; am nächsten Morgen hatte er schon wieder Gänge zu besorgen, und er tat seine Pflicht mit