Schloss Frydenholm. Hans Scherfig

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Schloss Frydenholm - Hans Scherfig

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um zur Arbeit zu gehen, merkten sie, daß etwas geschehen sein mußte. Die Linie 6 fuhr durch die Farimagsgade, wo sie nichts zu suchen hatte. Was war geschehen? Ja, die Deutschen hatten das Land besetzt. Deshalb war es notwendig gewesen, die Straßenbahnen umzuleiten.

      Die Vorortbahnen hielten nicht an der Station Østerport, und die Leute, die dort aussteigen wollten, mußten weiterfahren. „He! Warum halten wir nicht?“ – „Nein, heute können die Züge in Østerport nicht halten, weil die Station von ausländischen Soldaten besetzt ist.“ Langelinie war für alle, die auf der Mole ihren Morgenspaziergang zu machen pflegten, gesperrt. Das Kastell war erobert.

      Quer über die Bredgade hatten die Deutschen aus Autos eine Barrikade errichtet. Die Leute betrachteten verwundert das Arrangement und wurden von den Wachposten weggejagt. Einige Zuschauer waren witzig: „Teufel noch mal! Habt ihr die Siegfriedlinie hierher verlegt?“ Am Schloß Amalienborg war es zu Schießereien gekommen. Einige Wachsoldaten seien erschossen worden, erzählte man. Die Regierung verhandele mit den Deutschen. Man sagte, der König weine.

      Man sagte soviel. Die Leute blieben auf der Straße stehen und erzählten und hörten Neues. Man sagte, die Deutschen seien in Korsør und Nyborg und Middelfart an Land gegangen. Auch auf Falster seien deutsche Truppen gelandet. Größere deutsche Truppenverbände hätten an sechs verschiedenen Stellen die Grenze überschritten und rückten auf Jütland vor. Dänische Grenzgendarmen seien von Mördern in Zivil hinterrücks erschossen worden.

      In einigen Orten Jütlands leisteten die Dänen Widerstand. Der Verteidigungsminister hatte noch beizeiten befohlen, auf keinen Fall zu mobilisieren. Um nicht herauszufordern.

      Der Rundfunk sendete Morgengymnastik, zuerst für Männer, dann für Frauen.

      Die Kinder gingen zur Schule. Der morgendliche Strom der Radfahrer füllte die Kopenhagener Straßen. Überall, wo deutsche Wachposten aufgestellt waren, sammelten sich Neugierige und starrten auf die Handgranaten und Stahlhelme der Fremden. Es war wie am Kinderhilfstag, wenn die Menschen verkleidet durch die Straßen zogen. Einige, die Deutsch gelernt hatten, nutzten die Gelegenheit, ihre Sprachkenntnisse anzuwenden; es gab auch welche, die den deutschen Soldaten Zigaretten anboten. Eine Menge Mädchen fanden sich ein, als handele es sich um einen friedlichen Flottenbesuch. Und die großen, schwarzen Flugzeuge flogen in Formation niedrig über die Stadt hinweg und übertönten die Straßenbahnen und die Fahrradklingeln.

      Im Rundfunk war nach der Morgengymnastik eine Sendepause. Dann folgte die Morgenandacht. Nummer achtundfünfzig im Gesangbuch:

      Unermeßlich wie der Sand

      und ohne Grenzen

      wie die tiefen Wasser des Meeres

      ist die Gnade des Herrn.

      Er hat in dieser Nacht

      mein Haus und Heim

      mit Engelsscharen umstellt,

      daß mir und den Meinen

      kein Leid geschah.

      Aber die Leute telefonierten miteinander und hörten Neues. Das Radio schwieg, doch die Gerüchte gingen von Haus zu Haus, die Neuigkeiten liefen durch die Straßen, sie fuhren mit der Straßenbahn, sie kamen mit der Milch und den Brötchen, sie reisten mit den Autobussen weit hinaus ins Land.

      Flemming Praahs bekam nicht den Schlaf, den er so dringend brauchte. Bleich vor Müdigkeit räumte er in Regalen und Schubkästen auf; er glaubte, Dinge zu besitzen, die gefährlich werden könnten, wenn es den Deutschen einfallen sollte, das Haus im Østerbro-Viertel zu stürmen. Die Wohnung hatte Zentralheizung. Er mußte die Bücher in das Wohnzimmer der Eltern hinübertragen, wo man der Gemütlichkeit wegen einen Kamin eingebaut hatte, einen fire-place, wie seine Mutter sagte, eine cosy corner mit Kissen und Fußbänken, Feuerzange und Blasebalg und einer Gabel zum Brotrösten. Jetzt wurde mit „Akademischen Intelligenzblättern“ Feuer gemacht.

      Die Broschüren aus Flemming Praahs’ revolutionärer Jugendzeit gingen in Flammen auf. „Die Krise in der Landwirtschaft“ – in den Kamin. „Wer stahl das Geld der Schuharbeiter?“ – in den Kamin!

      Flemming besaß auch „Das Kapital“ von Karl Marx. Vier Bände in grauem Leinen, die herausfordernd und trotzig in seinem Regal standen. Er hatte es nicht geschafft, darin zu lesen, aber er hatte sich vorgenommen, es einmal zu tun, wenn er mehr Zeit hatte. Nun wurde wohl nichts mehr daraus. Es waren schöne Bände, teure Bücher, 2 700 Seiten dünnes Papier. Hier und dort hätten sinnige Unterstreichungen sein müssen, Anmerkungen und Zeichen am Rand; doch nun war das ja egal.

      „Das Kapital“ brannte schlecht. Die Bücher glimmten im Schnitt, sie wollten nicht richtig Feuer fangen. Praahs schlug wild mit der Feuerzange auf sie ein, seine Hände zitterten, vielleicht ging es um Leben oder Tod, wenn das verdammte Buch nicht endlich verbrannte. Seine Mutter – noch im Morgenrock – half mit dem Blasebalg nach, der mit Messingnägeln und dem norwegischen Staatswappen verziert war. Sie blies ruhig und zielbewußt auf Karl Marx, so daß die Flammen aufloderten.

      Der norwegische Löwe mit der Axt in den Vorderpfoten erinnerte die gnädige Frau an friedliche Ferien im Gudbrandsdal. Nun hatten die Deutschen auch Norwegen besetzt, im Ferienland war Krieg, in den Bergen wurde gekämpft. Einfach unvorstellbar, der Urlaubsort als Kriegsschauplatz, das Hotel, in dem die Familie Praahs damals gewohnt hatte!

      Freunde hatten telefonisch mitgeteilt, die Invasion in Norwegen erstrecke sich von Oslo bis Trondheim, und das norwegische Volk leiste Widerstand. Professor Praahs kannte viele, die Verbindungen hatten und Bescheid wissen mußten, und so war er in die Stadt gegangen, um etwas Neues zu erfahren. Er kannte Chefredakteur Angvis vom „Dagbladet“. Dort mußte man alles wissen.

      Dann brannte „Das Kapital“ endlich. Der junge Praahs kam mit weiteren Schriften und Büchern. Frau Praahs stand vornehm und ruhig mit dem Blasebalg bereit. „Der Kulturkampf“ brannte und „Das Luftloch“. Auch eine kleine Ausgabe von Frederik Dreiers Schriften wanderte ungelesen in den Kamin. „Glaubst du wirklich, daß die Deutschen Frederik Dreier kennen?“ fragte Frau Praahs. „Die kennen mehr, als du ahnst!“ antwortete ihr Sohn. „Das Buch ist im Mondes-Verlag erschienen, schon das kann schlimm genug sein.“

      „Es ist noch nicht einmal aufgeschnitten“, sagte Frau Praahs.

      Robert Rieges sexualpolitische Broschüren kamen sicherheitshalber ebenfalls in den Kamin. Auch Nummern der „Sexualtidende“ und Poul Henningsens „Was mit der Kultur?“ wurden den Flammen überantwortet. Und die Frau Professor blies mit dem dekorierten norwegischen Blasebalg auf den brennenden Freigeist.

      Dann gab das Radio plötzlich Laute von sich. Mutter und Sohn am Kamin ließen das Pusten sein und lauschten angespannt. Der dänische Sprecher verlas eine Botschaft des Generals Kaupisch. Die Stimme des Sprechers war bewegt, man konnte hören, daß er die Botschaft widerwillig verlas. Ihr Inhalt glich etwa dem, was auf den hellgrünen Zetteln gedruckt stand, die aus deutschen Flugzeugen auf Kopenhagen herabgeflattert waren. Die Bevölkerung wurde aufgefordert, Ruhe zu bewahren und die Radios eingeschaltet zu lassen, da noch wichtige Mitteilungen zu erwarten seien. Danach brachte man Musik von Schallplatten. „Kalle, Kalle, Kalle aus Schonen.“ Alle halbe Stunde wurde der Aufruf des Generals wiederholt.

      Frau Praahs schürte das Feuer, und die glimmenden Schriften flammten wieder auf. Der Sohn trug noch ein paar Bücher und Zeitungen herbei, die ihm gefährlich schienen.

      Das letzte, was im Kamin der Familie Praahs verbrannt wurde, war eine lederne Schreibunterlage, eine Mappe und ein Löscher mit Monogramm und Hammer und Sichel.

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