Der Reiter auf dem Regenbogen. Georg Engel

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Der Reiter auf dem Regenbogen - Georg Engel

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Händen den Toten Zettel in den Mund und befahl ihnen zu reden.

      Jimm hatte den Totenzwang.

      „Antwort?“ Der Alte mass seine Besucher von oben bis unten und wiegte zweifelnd das Haupt: „Je,“ meinte er endlich nachdenklich, „ich weiss nicht, ob ihr auch so seid wie die in der Stadt. Sie sagen ja von mir, ich hätt’ meinen Klug nicht ganz“ — hier zeigte er nach seiner Stirn —, „seit mir bei dem Schiffsunglück meine Frau und meine beiden Jungen versoffen sind. Aber das müsst ihr nich’ glauben,“ fuhr er gemütlich fort und schob einen neuen Priem in den Mund, „ich weiss bloss ordentlich mit den Stillen umzugehn.“

      „Was tust du denn mit ihnen?“ flüsterte Toni, bei der die Neugierde das Entsetzen überwog.

      „I, ich sprech mit ihnen. — Still und richtig, wie es sich gehört. Und hauptsächlich, ich spiel’ ihnen was vor. Seht, so.“

      Damit griff er hinter sich, holte eine alte, verschimmelte Geige hervor und begann einige verstimmte Töne zu ziehen. „Und wenn ich ihnen dann recht was erzähl’,“ fuhr er behaglich fort, „was sie gern hören wollen, oder wenn ich so was Feines und Passendes spiel’, dann klären sich auch die Gesichter auf — ich hab’s oft gesehen, — dann beginnen sie beinah zu lachen, ja, und manche verziehen euch sogar den Mund und wollen sprechen. Ja, ja, so is es. Seitdem weiss ich aber auch, dass man sich vor dem Letzten nicht fürchten soll. Es gibt gar kein Letztes. Das is ganz anders, als die Pasters glauben.“

      Gust fühlte plötzlich, wie der Leib Tonis an dem seinen bebte. Halb unbewusst drängte er deshalb zur Tür, noch während der raschen Bewegung stammelnd, dass sich der alte Jimm solche wunderlichen Erscheinungen gewiss nur einbilde.

      Da lachte der Riese recht zutraulich und hob eine eiserne Laterne vom Tisch, in welcher er das Licht entzündete.

      „Einbildung? da kuck selbst nach, du dummer Jung,“ brummte er bescheiden — „ich hab’ grad’ so einen Walfisch hier. Da unten im Boot liegt er. ’s ist Grete Kräwt, die gestern aus Liebe ins Wasser ging, die dumme Dirn. Na, kommt.“

      Gewaltig streckte sich der mächtige Leib, die Riesenfaust hob die Laterne so hoch, dass sie an die Decke stiess, und in dem zitternden Schein sah man die todblassen Gesichter der Kinder.

      Eine Sekunde nur.

      Dann hatte Gust die Gefährtin über die Schwelle gerissen, und dumpfe, enteilende Tritte verkündeten dem alten Kükeweih, dass er auf kein Publikum mehr zu rechnen habe.

      Eine Weile lauschte Jimm noch, als könnte er die Flucht der Kinder nicht begreifen. Dann schüttelte er ärgerlich — ein missverstandener Weiser — das Haupt und riss zornig seine Tür weit auf:

      „Gust,“ brüllte er, dass es weit über die dunklen Wiesen hallte. „Gust, Hanswust — laufe doch nich so. Wer sich vor dem Letzten fürchtet, der wird im Leben kein Professer. Aus dir wird nichts. — Gust, Hanswust.“

      Aber keine Antwort wurde laut.

      Da liess sich der Alte missmutig auf seinen Schemel zurückfallen und dachte eine Zeitlang ernsthaft nach. Endlich jedoch flog ein Lächeln über seine verwitterten Züge:

      „Was Grete Kräwt woll über die dummen Bälger lachen wird,“ meinte er halb neugierig, „ja, ja, sie wird sich gewiss darüber wundern.“

      Und damit strich er mit aller Macht über seine Geige, dass sie laut aufbrauste:

      „Freut euch des Lebens,

      Weil noch das Lämpchen glüht,

      Pflücket die Rose,

      Eh’ sie verblüht.“

      Erst bei dem alten Schwedenturm, der noch aus der Festungszeit einsam und zerbröckelt neben dem Fluss aufragte, machten die Flüchtlinge Halt. So weit hatte sie ihre aufgeregte Einbildungskraft getrieben. Hier schöpften sie ein wenig Luft, obgleich sie sich, wie auf Verabredung, auch an diesem dunklen und unheimlichen Ort, um den der Wind so heulend jagte, nicht von den Händen zu lassen wagten.

      Kalte Regenschauer fegten auf sie nieder.

      „Gust,“ brachte Toni, die sich rascher erholte, atemlos hervor: „Hast du Grete Kräwt gekannt?“

      „Ja, sie soll sich ja wegen des Steuermannes Grapentin das Leben genommen haben, als er nichts mehr von ihr wissen wollte.“

      „Pfui — so seid ihr Männer — so seid ihr. Mir sollte so was nicht passieren. Ich lache über euch alle — ich lache einfach.“

      Und sie lachte wirklich mit stolz in den Nacken geworfenem Haupte. Das Echo brach sich an dem alten Mauerwerk, und ein helles Gelächter schlug zurück.

      „Gust,“ flüsterte Toni weiter, bei der die Unheimlichkeit der Gegend und die eben überstandene Angst alle verborgenen Gefühle zur Höhe brachten:

      „Du bist jetzt ein grosser Junge — und in der Prima habt ihr ja alle so was — Karl schreibt sich ja auch mit Lisbeth Blohm. Du kannst’s mir ruhig anvertrauen — hast du nicht auch all eine Braut? Sag mal.“

      „Ich?“

      Da unterlag Gust gleichfalls dem phantastischen Orte. Das Heulen des Windes und das in seinen Adern summende Blut, alles vereinte sich, um ihn in eine unerhörte, wildblühende, nie zuvor gesehene Landschaft zu versetzen.

      „Ja,“ quoll es heiss aus ihm heraus, „ich hab’ eine Braut — ich hab’ eine.“

      Im Moment war er sich keiner Lüge bewusst, ja, er hätte wie ein Marienritter seine Lanze gegen alle Welt eingelegt, wenn sie ihm die Liebkosungen der stillen, goldbraunen Martha bestritten hätte.

      In diesem Augenblick zog er die Ferne an sich, er fühlte sie, er küsste sie auf Augen und Haare.

      „Martha Kräplin?“ flüsterte Toni neben ihm. Und es klang beinahe wie Trotz und Hass dazwischen. Allein Gust war zu sehr in seinem Gespinst verstrickt, dunkelrot, nickte er nur. Und je mehr seine Gefährtin ihm nun die Unmöglichkeit seiner Angaben zu beweisen suchte, je heftiger sie Gusts Schüchternheit und den Unterschied der sozialen Stellung zwischen seiner Angebeteten und ihm hervorhob, denn Martha Kräplin war die Tochter eines Kapitänleutnants, desto glühender schilderte Gust in seiner Tollheit die Liebesbeweise, die er bereits erhalten haben wollte.

      „Küsst Ihr euch?“ forschte Toni barsch und ungläubig.

      „Jedesmal beim Abschied,“ versicherte Gust.

      „Das lügst du,“ schrie Toni, die vor Wut die Fäuste ballte.

      „Warum? Glaubst du, dass ich ein Weib nicht bezwingen kann?“

      „Du — du wagst dich ja garnicht an ein erwachsenes Mädchen heran, du — du Hans guck in die Luft, du.“ Dabei streckte sie sich und schob den Fuss vor, als ob sie einen Feind erwarte. Und wild klang’s:

      „Kuck, hier steh’ ich, so versuch’s doch, so wag’s doch, du Duckmäuser.“

      O, Gust, jetzt packt dich das rasende Leben beim Schopf, jetzt packt dich der eine der beiden Ströme, die um die Erde kreisen, und trägt dich zu fernen Ufern. Die Ströme heissen: Hass und Liebe.

      Gust

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