Der Reiter auf dem Regenbogen. Georg Engel
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Читать онлайн книгу Der Reiter auf dem Regenbogen - Georg Engel страница 9
„Toni, ist das dein Ernst?“ stammelte er schwankend.
Da verhöhnte sie ihn von neuem, immer verächtlicher, denn sie merkte seine knabenhafte Unkraft.
„Du willst Martha Kräplin geküsst haben?“ lachte sie herb. „Du? — Du Feigling?“
„Nimm dich in acht,“ fuhr Gust jetzt auf und stürzte auf sie zu. Seine Arme waren hoch erhoben, mehr zum Ringen als zur Umarmung, und das Mädchen wich im ersten Moment erschrocken zurück.
„Tu mir nichts,“ stotterte sie noch.
Dann waren sie aneinander. Ein Kämpfen, Ringen, ein Fassen und dann — ein zitterndes Umfangen, ein scheues Beben, Wange an Wange. Es war alles nur Ahnung und Wunsch.
Und doch waren diese beiden erschütterten Seelen so befangen, so völlig von dem Unerhörten durchwühlt, dass Toni sich erst wieder fand, als sie Gusts Nacken, den sie mit beiden Händen umklammert hielt, langsam und scheu fahren liess.
„Sei mir nicht bös,“ hauchte sie, „du bist kein Feigling, du bist nicht feig.“
Aber Gust antwortete nichts.
Der erste Schritt, der erste Blick in das unbekannte Land, das er betreten sollte, sie hatten ihm eine ungeheure Enttäuschung gebracht.
Er verharrte wie in starrender Verwunderung.
O, du treue Begleiterin des armen Gust, du tänzelnde, spielerische Phantasie, wo sind deine wollüstigen Gemächer, die rotfunkelnden Springbrunnen, die weichen Düfte, die marmornen Glieder? Wo die tanzenden Sklavinnen?
Nirgends!
Hier steht das frische, erdenhafte Leben und hat keck den Vorhang fortgerissen. Und die erste Betäubung deines Schützlings sieht nichts, als eine ungeheure Weite, auf der das Schweigen lagert.
Da steht Gust und starrt auf das unbekannte Land.
„Und du willst Martha heiraten?“ fragt eine bebende Stimme neben ihm.
Gust nickt kurz.
Er hätte in diesem Augenblick um keinen Preis sprechen können.
„Dir gönn’ ich alles,“ fährt es neben ihm halb schluchzend fort. Aber trotzig klingt es gleich darauf dazwischen: „Und von nun an bin ich deine Vertraute. So etwas braucht man. Hörst du?“
Noch einmal wirft sich das Mädchen an seine Brust und küsst ihm stürmisch den Mund.
Dann tönen dicht hinter ihnen Schritte, und unvermittelt reisst sich Toni los, um wie ein schiessender Vogel in der Nacht zu verschwinden.
„Gute Nacht, dummer Gust,“ verklingt es lachend.
Dann ist er allein.
Eine Weile steht er noch unbeweglich und lauscht. Die nahenden Schritte schallen deutlicher.
Sollte Jimm Kükeweih seine Spur gefunden haben?
Aber nein, Jimm schreitet nicht so zart. Es muss jemand anders sein.
Aus der Dunkelheit löst sich ein wohlanständiger Überzieher, beschattet von einem etwas hohen Zylinder, und als der späte Wanderer näher kommt, da erkennt Gust Herrn Winkelmann, der sich auf dem Heimweg befindet.
„Ah, Sie sind’s, mein junger Freund,“ räuspert sich der Antiquar und zieht ehrfürchtig den hohen Hut: „Freut mich ungemein. Da möchte ich Ihnen noch ganz ergebenst eine gute Nacht wünschen. Auch glaube ich, dass Sie zu Hause erwartet werden.“
Damit nimmt er den Zylinder noch einmal ab und schwenkte ihn tief mit einer unnachahmlich archaistischen Bewegung.
„Empfehle mich ergebenst.“
Gleich darauf schreitet er diskret in die ihn entziehende Dunkelheit. Wieder steht Gust in der Finsternis. Er schüttelt das Haupt und legt die Hand an die Stirn.
Was bedeutet das alles?
Die Welt mit ihren Küssen und Zylindern kommt ihm immer unlogischer vor.
Wer kann da herausfinden?
Und tief senkt er das Haupt und schleicht erschüttert nach Hause.
III.
Am nächsten Morgen Punkt 9 Uhr stand die Frau Kapitänin Petersen freudestrahlend am Bett ihres Einzigen. In ihren Händen hielt sie hoch erhoben einen schwarzen Gehrock, der zwar auf dem Rücken und an den Ärmeln einigen Glanz aufwies, im übrigen aber die Feierlichkeit seiner Art gut repräsentierte. Dies war der Gehrock, den der verstorbene Kapitän Petersen an seinem Hochzeitstage getragen hatte, und der nun für Gust zurecht gemacht worden war, erstens, weil sich der Rock noch kampftüchtig zeigte, und hauptsächlich, weil Frau Miete heimlich daran glaubte, dass sich die hervorragenden geistigen Eigenschaften ihres Gatten doch irgendwo in den grossen Vorder- und Hintertaschen des Kleidungsstückes festgesetzt haben könnten.
Der Verstorbene hatte ja spanisch und holländisch zu fluchen vermocht. Das erfüllte die Witwe noch heute mit wehmütiger Erinnerung.
„Ja,“ sagte sie und hielt den Rock wohlgefällig den Sonnenstrahlen entgegen, die in breiter Bahn durch das schräge Dachfensterchen drangen.
„Ja,“ sagte sie, „sieh her, er hat ihn zu unserer Hochzeit getragen. Kuck, so knöpfte er sich immer nur den ersten Knopf zu, vielleicht weil eine weisse Weste darunter sass. Vielleicht auch, weil er schon damals ein wenig korpulent wurde. Ach, es war ein schöner Mann, dein Vater. Er erinnerte mich immer ein wenig an den Dr. Martin Luther. Weisst du, Gust, wegen des Doppelkinns; und dann, sobald ich nach seiner Meinung zuviel Wochengeld ausgegeben, dann schlug er auch immer so herrisch auf das Wirtschaftsbuch. Akkurat wie Martin Luther.“
Mit diesen Worten drehte sie das Kleidungsstück halb bewundernd, halb andächtig hin und her, und sie ahnte vielleicht selbst nicht, wie sich ihre runden Augen dabei unmässig vergrösserten. Dachte sie doch im Moment daran, ob ihr Gust nicht gleichfalls so eine Art Reformator werden könnte, und ob man seine Lieder nicht auch einmal in der Marienkirche singen würde.
Und Gust?
Sobald seine Mutter das bunte Tor der Träume mit ihren zarten Händen aufstiess, der Sohn sprang stets laut jubelnd hinterdrein.
„Mutter, hier bin ich — ich will werden, was du willst.“
Und er hörte ebenso wie sie die tosende Orgel, und er vernahm Martha Kräplin mit ihrer hellen Stimme seine Lieder singen. Mit heissen Wangen sprang er aus dem Bett gerade in die Sonnenwärme hinein.
Über dem schwarzen Rock, den sich Gust nun vor dem Spiegel anziehen musste und an dem die Frau Kapitänin beifällig herumzupfte, darüber vergassen sie beide völlig das Stipendium von Tante Betti, sie entschlugen sich aller Lebenspläne, alles aus Stolz über das Staatskleid, das wie ein Kaiser in diese Hütte getreten war.
„Hier ist noch ein weisser Schlips,“ meldete die starke Frau zum Schluss und band ihrem geschmückten Sohne auch dieses feierliche Attribut um.
Nein,