Vorträge über das Johannes-Evangelium, Band 1. Augustinus von Hippo
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11.
„Das Gesetz nämlich ist durch Moses gegeben worden“, jenes Gesetz, welches die Schuldigen festhielt. Denn was sagt der Apostel? „Das Gesetz kam dazwischen, daß die Sünde zunehme“76. Dies war für die Stolzen von Nutzen, daß die Sünde zunahm; denn viel maßen sie sich bei und schrieben gleichsam ihren Kräften viel zu; und sie hätten die Gerechtigkeit nicht erfüllen können, wenn sie der nicht unterstützt hätte, der den Befehl gegeben. Da Gott ihren Stolz bändigen wollte, gab er das Gesetz, als wollte er sagen: Sehet, erfüllet es, damit ihr nicht glaubet, es gebe keinen Befehlenden. Es fehlt nicht der Befehlende, sondern es fehlt der Vollzieher.
12.
Wenn also der Vollzieher fehlt, warum vollzieht er es nicht? Weil er geboren ist mit dem Ableger (tradux) der Sünde und des Todes. Von Adam geboren, ging auf ihn über, was dort empfangen wurde. Der erste Mensch fiel, und alle, welche von ihm geboren sind, zogen sich durch ihn die Begierlichkeit des Fleisches zu. Es mußte ein anderer Mensch geboren werden, der keine Begierlichkeit an sich hatte. Mensch und Mensch, der eine zum Tod, der andere zum Leben. So sagt der Apostel: „Weil durch einen Menschen der Tod, darum auch durch einen Menschen die Auferstehung der Toten“. Durch welchen Menschen der Tod, und durch welchen Menschen die Auferstehung der Toten? Übereile nichts! Er fährt fort und sagt: „Denn wie in Adam alle sterben, so werden in Christus alle lebendig gemacht werden“77. Wer gehört zu Adam? Alle, welche von Adam geboren sind. Welche zu Christus? Alle, welche durch Christus geboren sind. Warum sind alle in der Sünde? Weil keiner geboren ist außerhalb Adams. Daß sie aber aus Adam geboren wurden, geschah notwendig infolge der Verurteilung; durch Christus geboren werden, hängt vom Willen und der Gnade ab. Nicht gezwungen werden die Menschen, durch Christus geboren zu werden; dagegen nicht weil sie wollten, sind sie aus Adam geboren. Alle jedoch, die aus Adam geboren werden, sind mit Sünde behaftete Sünder; alle, die durch Christus geboren werden, sind gerechtfertigt und gerecht, nicht in sich, sondern in jenem. Denn in sich, wenn du fragst, gehören sie zu Adam; in jenem, wenn du fragst, gehören sie zu Christus78. Warum? Weil dieser, das Haupt, unser Herr Jesus Christus, nicht mit dem Ableger der Sünde kam, wenn er auch mit sterblichem Fleische kam.
13.
Der Tod war die Strafe der Sünden; beim Herrn war er eine Gabe der Barmherzigkeit, keine Strafe der Sünde. Denn der Herr hatte nichts, weshalb er zu sterben verdiente. Er selbst sagt: „Siehe, es kommt der Fürst dieser Welt, und er findet an mir nichts“. Warum also stirbst du? Aber „damit alle wissen, daß ich den Willen meines Vaters tue, so stehet auf, lasset uns von hinnen gehen“79. Er hatte nichts, weshalb er sterben sollte, und er ist doch gestorben; du hast Grund zu sterben, und weigerst dich zu sterben? Weigere dich nicht im Hinblick auf deine Schuld das zu erdulden, was jener zu erdulden sich würdigte, um dich vom ewigen Tode zu befreien. Ein Mensch und ein Mensch; doch jener nur Mensch, dieser Gottmensch; jener ein Mensch der Sünde, dieser ein Mensch der Gerechtigkeit. Du bist in Adam gestorben, stehe auf in Christus; denn beides bist du schuldig. Schon glaubst du an Christus, doch mußt du noch bezahlen, was du schuldig bist von Adam her. Aber nicht für immer wird dich das Band der Sünde fesseln, denn deinen ewigen Tod hat der zeitliche Tod deines Herrn vernichtet. Das ist Gnade, meine Brüder, das ist auch Wahrheit, weil sie verheißen und gewährt ward.
14.
Diese (die Gnade) gab es nicht im Alten Bunde80, weil das Gesetz drohte, nicht half; befahl, nicht heilte; die Krankheit zeigte, nicht wegnahm; aber es bereitete vor auf den Arzt, der mit Gnade und Wahrheit kommen sollte, gleichwie ein Arzt zu einem, den er heilen will, zuerst seinen Diener schickt, damit er jenen gebunden finde. Er war nicht gesund, er wollte nicht geheilt werden, und damit er nicht geheilt würde, rühmte er sich, er sei gesund. Das Gesetz wurde geschickt, es band ihn; er findet sich schuldig, schon schreit er wegen des Bandes. Es kommt der Herr, er heilt mit etwas bitteren und scharfen Arzneimitteln; er sagt nämlich zum Kranken: trage; er sagt: dulde; er sagt: liebe nicht die Welt, habe Geduld; es heile dich das Feuer der Enthaltsamkeit, das Schwert der Verfolgungen sollen deine Wunden aushalten. Du entsetztest dich, obwohl gebunden; jener, frei und ungebunden, trinkt, was er dir gab; er litt zuerst, um dich zu trösten, als wollte er sagen: Was du für dich zu leiden fürchtest, das leide ich zuerst für dich. Das ist Gnade und zwar große Gnade. Wer preist sie gebührend?
15.
Von der Niedrigkeit Christi rede ich, meine Brüder. Die Hoheit Christi und die Gottheit Christi ― wer kann sie aussprechen? Um von der Erniedrigung Christi in der Erklärung und Darlegung auf jede Weise zu sprechen, reichen unsere Kräfte nicht aus, ja wir sind zu schwach; wir überlassen das Ganze den Denkenden, denen, die bloß hören, können wir es nicht genügend darlegen. Bedenket die Erniedrigung Christi. Aber wer, fragst du, kann sie uns erklären, wenn du es nicht sagst? Er soll es dir innerlich sagen. Besser sagt das der, welcher innen wohnt, als der, welcher außerhalb spricht. Der möge euch die Gnade seiner Erniedrigung zeigen, der in euren Herzen zu wohnen angefangen hat. Wenn wir nun schon zur Erklärung und Darstellung seiner Niedrigkeit nicht stark genug sind, wer mag dann seine Hoheit darlegen? Wenn „das Fleisch gewordene Wort“ uns in Verwirrung bringt, wer wird dann erklären: „Im Anfang war das Wort“. Bewahret also, Brüder, einen festen Glauben.
16.
„Das Gesetz ward durch Moses gegeben, Gnade und Wahrheit ist durch Jesus Christus geworden.“ Durch einen Diener ist das Gesetz gegeben worden, es erzeugte Schuldige; durch den Herrscher ist die Verzeihung gewährt worden, er hat die Schuldigen befreit. „Das Gesetz ist durch Moses gegeben worden.“ Es schreibe sich der Diener nicht mehr zu, als was durch ihn geschah. Erwählt zu einem hohen Amte, als getreu im Hause, aber doch nur ein Diener, kann er gemäß dem Gesetze handeln, von der Schuld des Gesetzes kann er nicht lösen. Also „das Gesetz ward durch Moses gegeben, Gnade und Wahrheit ist durch Jesus Christus geworden.“
17.
Und damit nicht etwa einer sage: Ist nicht auch Gnade und Wahrheit geworden durch Moses, der Gott gesehen hat? fügte er sogleich hinzu: „Gott hat niemand je gesehen.“ Und wie wurde dem Moses Gott bekannt? Weil der Herr sich seinem Diener offenbarte. Welcher Herr? Christus selbst, der das Gesetz durch einen Diener vorausgeschickt hat, um dann selbst zu kommen mit Gnade und Wahrheit. Denn „Gott hat niemand je gesehen“. Und wie ist er jenem Diener, soweit er es fassen konnte, erschienen? Aber „der eingeborene Sohn, heißt es, der im Busen des Vaters ist, der hat es kundgetan“. Was heißt das: „Im Busen des Vaters“? Im Verborgenen des Vaters. Denn Gott hat nicht einen Busen81, wie wir an den Kleidern einen solchen haben, noch auch darf man meinen, er sitze so wie wir, noch ist er etwa umgürtet, daß er einen