Die weise Schlange. Petra Wagner
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Читать онлайн книгу Die weise Schlange - Petra Wagner страница 6
Vivianes Gedanken drifteten ab und sie sah ihre Brüder, Schwester, Mutter, Vater, Großmutter, Schwägerinnen, Nichte und Neffe vor sich. Was ihre Leute wohl jetzt gerade machten?
Derart in sich selbst versunken, war Viviane beinah erstaunt, als sie ihren Fuß von Wiese auf Waldboden setzte und sich die Krieger in Windeseile zwischen Birken, Buchen, Eichen und Eschen verteilten. Obwohl diese noch keine Blätter trugen, war es zwischen den Bäumen merklich dunkler. Nun übernahm Akanthus die Führung und sie und Merdin folgten ihm einen kaum sichtbaren Pfad entlang.
Immer tiefer schlängelte sich der Pfad in den Wald hinein, vorbei an Sträuchern, Stämmen, Büschen … und Viviane musste gut aufpassen, um nicht zu straucheln, denn sie fühlte sich schon wieder ein wenig schwindelig. Rasch richtete sie ihre Aufmerksamkeit auf Akanthus’ lange Haare und das lauter werdende Dröhnen der Trommeln. Die Anwesenheit der anderen Krieger, die zwischen den heiligen Bäumen hindurchhuschten, konnte sie nur erahnen.
Prompt erinnerte sie sich an ihre eigenen Lektionen in Ausspähen, Flankendeckung, Geleitschutz … und schmunzelte vor sich hin.
In diesem Moment trat Akanthus zur Seite. Mit sichtlicher Freude wies er auf einen See, der unerwartet vor ihnen lag, und aus Vivianes Lächeln wurde ein Strahlen.
So einen schönen Waldsee hatte sie noch nie gesehen. Klares Wasser, eingebettet in dicke Moospolster, zierliche Gräser und Nussbäume über Nussbäume, jeder für sich einzigartig in Höhe und Form – eine große Familie, Jahrhunderte alt.
Fasziniert betrachtete sie die winzigen Sprösslinge, die schlanken Stämme, die knorrigen Baumriesen, den glitzernden Wasserspiegel in ihrer aller Mitte und hauchte: „Wunderbar.“
„Wohl wahr, dies ist magisches Land“, flüsterte Merdin. „Dem Unwissenden für immer verborgen.“
„Dies, meine Kinder, ist der See der Erkenntnis. Hier sind die Götter zum Greifen nah“, raunte Akanthus hinter ihnen und schob sie sachte vorwärts. „Taucht ein in unsere heilige Stätte, haltet die Augen offen und erkennt. Wir sehen uns auf der anderen Seite.“
Viviane und Merdin drehten sich zu ihm um und nickten feierlich. Dann legten sie ihre erbeuteten Waffen nieder und stiegen Seite an Seite in das kristallklare Wasser.
Sofort kroch Eiseskälte an Viviane hinauf, doch das machte ihr nichts aus. Hierzulande war sie schon oft in der kalten Jahreszeit baden gewesen – einfach so, ohne davor ein Schwitzbad genommen zu haben. Zu Hause hätte sie sich strikt geweigert, hier legte sie die Hände zusammen und stürzte sich kopfüber ins Abenteuer.
Kaum war sie unter Wasser, öffnete sie die Augen und bewegte sich mit kräftigen Schwimmstößen abwärts. Der Weg bis zum Grund war weit, viel weiter als gedacht und Merdin, dicht neben ihr, deutete energisch nach unten. Im Takt der Trommeln tauchten sie tiefer und betrachteten das Leben um sich herum mit großen Augen. Den Grund des Sees erreichten sie nicht, da sie wie aus dem Nichts von einem Sog erfasst wurden, dem sie viel Kraft entgegensetzen mussten, um nicht mitgerissen zu werden. Seltsamerweise schien ihnen das weit entfernte Dröhnen der Trommeln zu helfen, ließ sie ruhig bleiben. Erst, als ihnen wirklich die Luft knapp wurde, bahnten sie sich einen Weg zurück ans Licht.
Kaum stießen ihre Köpfe durch die Oberfläche, schnappten sie lachend nach Luft. Sie waren am Ufer angelangt, genau vor Akanthus.
Hinter ihm hatten sich die Krieger versammelt, diesmal jedoch nach Geschlechtern getrennt; die jüngeren Männer und Frauen hielten demonstrativ fein gewebte Leintücher hoch. Uathach schwenkte feixend ein besonders winziges aus Wolle.
Es kam Viviane seltsam vor, abgetrocknet zu werden wie ein Kleinkind, aber es gehörte nun mal zur rituellen Handlung. Also ließ sie sich einwickeln und lächelte in die Runde – prompt polierte ihr Uathach die Zähne, summte im Takt der Trommeln ein Kinderlied und brachte sie beide dadurch noch mehr zum Lachen.
Von allen Seiten wurde Viviane mit Tüchern traktiert, bis ihre gesamte Haut rot war und kribbelte. Als sie schließlich in einen weichen Lederumhang gehüllt wurde, wich die eisige Kälte einer enormen Hitze.
Plötzlich wurde ihr bewusst, wie wach sie war. So wach wie noch nie in ihrem Leben. Mit großen Augen schaute sie ihren Meister an.
Akanthus lächelte wissend und deutete auf die ältesten Kriegerinnen, die sie offenbar zur nächsten Station begleiten sollten.
Gespannt, was nun kommen würde, ließ sich Viviane von ihnen führen – zwei vor sich, zwei hinter sich und die restlichen wieder zwischen den Bäumen verteilt. Merdin folgte mit den ältesten Kriegern dichtauf.
Immer tiefer ging es in den Wald hinein und Viviane staunte, was sie alles zu sehen bekam – oder besser, was sie alles wahrnahm: Kühler Waldboden, mal spröde, mal an ihren Fußsohlen haftend … sprießende Grashalme, manche weich, andere stichelten an ihren Waden … gelbe, blaue, weiße Teppiche aus Winterlingen, Hasenglöckchen, Buschwindröschen … ein Wirrwarr aus sprießenden Knospen, verwebt mit Licht und Schatten. Myriaden schwebender Staubkörnchen, Scharen von Bienen und Hummeln, Perlen aus Morgentau, und das feuchte Moos warf seinen Duft bis auf ihre Zunge. Überall roch es so intensiv nach Erde, Luft, Sonne, Wasser, nach altem Laub und neuem Leben …
Der Frühling schoss in Viviane, so machtvoll, dass sie sich fast selbst wachsen fühlte, und die Trommeln begannen mit einer Wucht zu schlagen, als wären sie ihr aufgehendes Herz.
Ihr Rhythmus bestimmte, wie Viviane Atem schöpfte, tief ein, langsam aus. Ja, ihr Rhythmus bestimmte sogar, was sie dachte, als sich der Wald auftat und eine weite Lichtung vor ihr lag:
All heilige Bäume als Wächter bereit, kreisrund gepflanzt hier vor langer Zeit. Trommeln in Nord und Süd und Ost und West, laut hallend weit und himmelwärts. Kinder des Drachen, die Schilde gerafft, folgen dem Ruf nun zum Teilen der Macht. Akanthus tritt ein, erhaben und rein, lang noch soll seine Herrschaft sein. Mein Ziel ist ein Kessel in Silber und Pracht, breit wie ein Bottich, tief wie ein Nest.
Wie kam sie denn jetzt gerade auf ‚Nest‘? ‚Tief, drum gib acht‘ hätte viel besser gepasst, zumal – wie sie wusste – dieser wuchtige Kessel mit Wasser gefüllt war.
Viviane ergriff ein Schauder von den Haarwurzeln bis zu den Fußsohlen. Sie musste sich zusammenreißen, damit sie sich endlich aus dem Sog der Trommeln befreite, oder was auch immer sonst an ihr zerrte.
Sie stand hier mit Merdin – frisch gewaschen, bedeckt von Leder und ihren Zöpfen – am Waldrand. Vor ihnen, auf der Lichtung, hatten sich sämtliche Krieger in einem weitläufigen Kreis aufgestellt und streckten ihre Schilde und Speere weit von sich nach rechts und links, so als wollten sie den Eintritt verwehren. Nur um Akanthus herum war Platz. Er war als Einziger immer noch unbewaffnet. Er streckte ihnen auch als Einziger die Arme entgegen und deutete einladend auf den silbernen Kessel genau im Zentrum der Lichtung.
Was gab es da noch zu überlegen?
Viviane griff nach Merdins Hand und erhobenen Hauptes traten sie durch den Kreis der Drachenkrieger. Im Takt der Trommeln schritten sie auf den Kessel zu; feierlich einen Fuß vor den anderen setzend, schien seine massige Gussform sie förmlich anzuziehen. Große Reliefs mit Darstellungen von Göttern wölbten sich ihnen darauf entgegen, als wollten sie sich als Erste präsentieren, und tatsächlich erkannte Viviane schon von Weitem einige der Götter an ihren Insignien.
Sobald sie davorstand, konnte sie filigranste Gravuren unterscheiden und dennoch war es unmöglich, all seine Bilder zu erfassen, um deren Sinn zu deuten. Das war auch nicht