Die weise Schlange. Petra Wagner
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Kurz überkam sie die Versuchung, die Augen zu öffnen, um den Kessel von innen zu inspizieren. Das ließ sie jedoch bleiben. Dies war ein heiliges Ritual und Demut vor den Göttern war ihr von Kind an beigebracht worden. Es gab nur einen einzigen Tag im Jahr, um gleichauf mit ihnen zu sein, und bis zu diesem Ereignis war es noch lange hin.
Das Wasser war angenehm warm und mit Rosenöl versetzt, sodass sie beim Auftauchen unwillkürlich den Kopf zurückbog und dessen feines Aroma genoss.
Akanthus’ Hand, immer noch auf ihrem Scheitel ruhend, folgte dieser Bewegung und so hätte es auf einen Außenstehenden vielleicht gewirkt, als hielte er sie beim Schopf gepackt. Doch jeder hier in weiter Runde wusste es besser: Seine Hand auf ihrem Kopf war eine Geste des Behütens und Beschützens, die er als Anführer symbolisch für die gesamte Gemeinschaft leistete, genauso, wie er sie gerade eben auch als Einziger in den Kreis gewunken hatte.
Viviane benutzte ebenfalls eine Geste, während sie dem Kessel entstieg: Sie streckte Merdin beide Hände entgegen, um ihm den Platz im Kessel anzubieten.
Nachdem er untergetaucht war, beobachtete Viviane die Krieger in ihrem Umfeld. Mittlerweile hatten sich alle niedergelassen.
Die Schilde und Speere ins Gras gelegt, schauten sie voll konzentriert zum Kessel und zu ihr herüber, wobei die Frauen und Männer mittleren Alters große Leintücher oder Tontöpfchen in Händen hielten und besonders erwartungsvoll schienen. Viviane schmunzelte und fühlte eine wohlige Wärme an sich aufsteigen; sie stand auf einem großen flachen Stein, dem ein herrlicher Bratenduft entstieg. Demnach garte genau unter ihr das Festessen vor sich hin und bei genauerer Betrachtung entdeckte sie ganz in der Nähe noch mehr dieser praktischen Erdöfen. Wieso waren sie ihr vorher nicht aufgefallen?
Abrupt ging ein Ruck durch den Kreis; alle Krieger setzten sich besonders aufrecht hin, ihr Mienenspiel und ihre gesamte Körperhaltung drückten Freude aus. Viviane drehte rasch den Kopf und strahlte mit.
Ihr Herz quoll fast über vor Glück, als Merdin auf die gleiche Weise dem Kessel entstieg wie sie und sein Gesicht dem Himmel entgegenstreckte. Sein schlanker Körper strotzte vor Kraft und schimmerte dermaßen golden, als wäre er geradewegs einem Mythos entstiegen.
Das Wasser rann nicht einfach an ihm herunter, es haftete an seiner hellen Haut wie Perlenschnüre aus Morgentau. Seine kupferroten Zöpfe lagen wie nasse Taue auf seinem Rücken und seine Augen strahlten wie ein azurblauer Himmel.
„Welche Schutzgeister willst du auf Brust und Rücken gezeichnet haben?“
„Meine Schutzgeister?“
Viviane starrte auf drei blaue Spiralen und musste heftig blinzeln, um statt der Spiralen ein Gesicht zu erkennen.
Bis sie die Frage der Frau begriffen hatte, war sie bereits von acht Kriegerinnen umringt, die zwei bis drei Mal älter, aber keinen Fingerbreit kleiner waren als sie selbst. Sanft tupften sie ihr mit feinen Leintüchern das Wasser vom Leib, öffneten, kämmten, trockneten und flochten ihr die fünf Zöpfe neu und rührten mit Pinseln in kleinen Tontöpfchen.
Merdin schien es auf der anderen Seite des Kessels ebenso zu ergehen, soweit sie das durch die wilden Haarmähnen der ihn umstehenden Krieger erkennen konnte. Sie erhaschte sogar ein fröhliches Zwinkern von ihm.
Alle acht Kriegerinnen lächelten ihr aufmunternd zu und rückten so dicht auf, als wollten sie einen Schutzschild aus blauer Haut und weichen Tüchern bilden; als wollten sie Viviane rundum vor der Außenwelt abschirmen.
Tatsächlich wurde es seltsam ruhig um sie herum und auch in ihr, nur das Dröhnen der Trommeln drang zu ihr durch wie ein Ruf aus dem Verborgenen.
„Hast du dich entschieden?“, fragte die Kriegerin noch einmal nach und ihre Gefährtinnen senkten kurz die Leintücher, damit Viviane einen Blick auf deren Schutzgeister über Brust und Bauch erhaschen konnte. Dann tupften sie weiter Tropfen um Tropfen von ihrer Haut.
„Ja, ich glaube … nein, ich bin sicher, ich hätte gerne eine große, starke Wölfin auf der Vorderseite und auf dem Rücken eine Stute – wie im Galopp oder wie im Sprung, weißt du?“
„Sehr gute Wahl“, lobte die Kriegerin, die selbst eine Taube auf der Brust hatte. Bei Vivianes verdutztem Blick grinste sie amüsiert, zeigte ihren Rücken, bedeckt mit einem Igel, und rührte noch eifriger im Tontopf.
Viviane sah in die kreiselnde blaue Farbe und wunderte sich, warum sie sich plötzlich so sicher war. Bis gerade eben hatte sie noch nie ernsthaft darüber nachgedacht, ob sie Schutzgeister brauchte, und erst recht nicht darüber, wer das sein sollte. Aber es war ja wohl logisch, dass ein Drachenkrieger seinen ganz persönlichen mentalen Schutz brauchte. Eine geistige Verbindung zu anderen Arten, aus der man Kraft schöpfen konnte, wenn man sie brauchte. Tiere waren bestens geeignet. Es gab auch Krieger, die Pflanzen bevorzugten.
Wer oder was kam also für sie infrage?
Sie hätte gerne die ganze Welt auf den Körper gemalt bekommen, inklusive Sonne, Mond, Sterne, Wind und Regen … Doch die innigste Verbundenheit zu anderen Arten fühlte sie bei Baria, ihrer Wolfstochter, und Dina, ihrer Stute. Vielleicht waren beide wiedergeborene Ahnen, deren Wege sich mit dem ihren gekreuzt hatten, das war durchaus möglich. Beide jedenfalls hatte sie vor dem sicheren Tode bewahrt und großgezogen wie ihre eigenen Kinder – wenn man das so sagen durfte, schließlich war sie damals selbst noch Kind und ein Gatte in weiter Ferne gewesen.
„Fertig, mein Kind“, gluckste die Kriegerin und rührte wieder eifrig im Topf. „Jetzt zeichnen auch meine Schwestern mit. Keine Bange, sie sind Spezialisten für Flechtmuster und Spiralen.“
„Das glaube ich gern.“ Viviane lächelte selig. Sie konnte gar nicht anders, denn nach einem Blick an sich herab war sie dermaßen begeistert, dass es keinen Zweifel gab: Auf ihrer Brust prangte Baria. Aber es war nicht einfach nur Baria, gezeichnet mit ein paar kunstfertigen Strichen, sondern ein Kunstwerk in Blau, das man erst als das Abbild ihrer Wolfstochter erkennen musste. Viviane hätte es noch ewig betrachten können.
„Ich habe deine Stute im Steigen gemalt. Das sieht noch spektakulärer aus. Außerdem habe ich mir sagen lassen, deine Stute sei etwas Besonderes. Die kleinste unter allen Pferden und trotzdem spurt sie wie das beste Schlachtross.“
„Ach …“, begann Viviane, doch die Kriegerin hob gebieterisch die Hand.
„Nicht abwiegeln! Du hast sie hervorragend getrimmt. Sie reagiert auf jede Bewegung und jeden Laut ihres Reiters und lässt sich von nichts ablenken. Ich meine, du trägst nun ein sehr eindrucksvolles Bild von ihr. Übrigens …“
Mit kritischem Blick überwachte die Kriegerin die Malerei an Vivianes Armen und Beinen, dann zog sie einen sehr dünnen Pinsel aus ihrer wilden Haarmähne und bückte sich. Beschwingt zeichnete sie winzige Symbole und Striche auf Vivianes Fingernägel und Fußnägel, und erklärte leichthin: „Perfekt, nun wacht auch unsere Schutzgöttin über dich.“ Sofort betrachtete Viviane ihre Finger und Zehen – es stand tatsächlich ‚Hall‘ in Oghamschrift auf ihren Nägeln.
„Gut, artig stillhalten jetzt. Im Gesicht sind die Spiralen am schwersten. Wir wollen doch eine saubere Triskele mit Mittelpunkten auf Augen und Mund. Obwohl Ohren und Kinn auch passen tät…“
„Bloß nicht!“ Viviane erstarrte und wagte kaum zu atmen, obwohl sie die Vorstellung von sich selbst