Handbuch Bibeldidaktik. Группа авторов
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Ausblendung von wenig bekannten und besonders von „schwierigen“ Texten
Neben weniger bekannten Texten, die leicht übersehen werden – dazu zählt beispielsweise auch das Hohelied – werden häufig solche Texte ausgeblendet, die als „schwierig“[7] gelten: weil sie kognitiv schwer verständlich sind (wie Joh 1,1–18Joh 1,1–18), sexuell anrüchig (wie die Tamarerzählung in Gen 38Gen 38), der eigenen Lebenssituation fremd (wie Abraham und Sara), keine Identifikationsmöglichkeit bieten (weil nur Männer vorkommen), zu naturwissenschaftlichen Erkenntnissen (wie Gen 1Gen 1), modernen Werten und gesellschaftlichen Normen im Widerspruch stehen (wie Gen 6–9Gen 6–9 oder Gen 22,1–9Gen 22,1–9), unglaubwürdig erscheinen (wie die Brotvermehrung in Mk 6,30–44parMk 6,30–44par..) oder schwierige theologische Fragen aufwerfen (wie das Buch Ijob mit der Theodizee). Aus theologischen Gründen ausgespart werden Texte, darunter etliche Gleichnisse, die Gott zurückweisend (wie Lk 14,1–24Lk 14,1–24) oder zornig (wie Mt 10,34f.) oder gewaltbereit (wie Lk 12,46f.) erscheinen lassen, die von der Hölle (wie Mt 25,40–46Mt 25,40–46) oder vom Gericht handeln (wie Mk 9,43–45Mk 9,43–45; 12,1–12parMk 12,1–12par..; Mt 10,15Mt 10,15; 11,20–23Mt 11,20–23; 25,1–13; Lk 16,19–31). Wo das Gleichnis von den Talenten oder die Gerichtsrede in Mt 25,31–46Mt 25,31–46 vorgesehen ist, wird die Drohrede am Ende konsequent ausgespart.
Es gibt gute Gründe, solche Texte nicht zu thematisieren. Andererseits sind aber die hier versprachlichten Erfahrungen Kindern und Jugendlichen keineswegs fremd. Die „Botschaft“ dieser Erfahrungen holen sie vielfach anderweitig ein: über säkulare Literatur, Filme und andere Medien, ggf. auch über die kirchliche Verkündigung. Eben weil dem christlichen Glauben auch eine „dunkle“ und anstößige Seite zu eigen ist, weil sich der christliche Gott immer wieder auch als „fremd“ erweist, ist es keine Lösung, die Bibel durch die Begrenzung auf einen „unproblematischen“ Kanon im Kanon zu domestizieren.
|106|Notwendigkeit, Gefahr und Chance der Auswahl
Jeder Umgang mit der Bibel ist selektiv und die Auswahl von Texten unumgänglich. Über diese pragmatische Notwendigkeit hinaus wird damit zugleich Akzentuierung, Fokussierung und didaktische Reduzierung möglich. Weder können ausnahmslos alle biblischen Texte Gegenstand der Erarbeitung und intensiven Auseinandersetzung sein, noch bedürfen sie dessen. So werden, von spezifischen Ausnahmesituationen abgesehen, die Texte über die Ausstattung des Tempels in Ex 36–40Ex 36–40 oder die Opfervorschriften für die Priester in Lev 6Lev 6 kaum für die Lektüre in Religionsunterricht oder Katechese ausgewählt.
Die Bildung eines Kanons im Kanon ist darum nicht einfach nur negativ zu bewerten. Als Festlegung auf einen klar umgrenzten Textbestand, der keine Offenheit zeigt für andere Möglichkeiten, sondern biblische Texte und Themen ausklammert, ist sie problematisch. Als begründete und reflektierte Auswahl anhand offen gelegter bibeltheologischer und religionspädagogischer Kriterien trägt sie dazu bei, dass für das Selbstverständnis des christlichen Glaubens zentrale Texte nicht in Vergessenheit geraten. Würden etwa die biblischen Traditionen, die von der menschlichen Sünde handeln, verdrängt, weil das Nachdenken über Sünde obsolet erscheint, würde eine wesentliche Dimension des christlichen Glaubens ausgeklammert.[8] Weiter bedeutet eine reflektierte Auswahl Konzentration und Nachhaltigkeit: Das je neue Erschließen von bereits vertrauten Texten in verschiedenen Altersstufen und Lebenssituationen hat eine andere Zielsetzung als das nur quantitative „Kennen“ von möglichst vielen biblischen Traditionen. Nicht zuletzt bescheinigt analog zum biblischen Kanonisierungsprozess die religionspädagogische Kanonbildung den ausgewählten Texten Autorität: Sie erhalten die Bestätigung, maßgebliche Richtschnur für Leben und Glauben zu sein. Eine grundlegende (bibel)didaktische Aufgabe besteht demnach in der gezielten und begründeten Auswahl von Texten und der Bestimmung konkreter Kriterien.
|107|Unterschiedliche Kriterien – kein eindeutiger Schulkanon
Verschiedene bibeldidaktische Konzepte – die „Grundbescheide“ von H.K. Berg[9], die „Grundmotive biblischen Glaubens“ von G. Theißen[10] oder die „Schlüssel zur Bibel“ von P. Müller[11] – stecken einen Rahmen für die Auswahl ab.[12] Neue Impulse kommen von Vertretern der kanonischen Exegese[13], die für eine Neubewertung des biblischen Kanons und die Bibel in ihrer Einheit und Ganzheit als eigenständiges Thema plädieren, sowie von Seiten der Kindertheologie, die explizit andere zentrale Texte (z.B. das Johannesevangelium) und auch Sperriges einspielt, um die theologische Auseinandersetzung zu fördern.[14]Gen 32,23–33 Auf diesem Hintergrund bemängeln G. Steins[15] als Exeget und T. Nauerth[16] als Bibeldidaktiker an verschiedenen bibeldidaktischen Konzeptionen die Vernachlässigung des Kanons zugunsten eines von außen an die Bibel herangetragenen Schemas, während das Auswahlprinzip nur aus der Schrift selbst kommen kann – ein Anliegen, das sich mit dem reformatorischen „sola scriptura“ trifft. Im Gegenzug entwickelt Steins drei Leitlinien einer Bibeldidaktik, die den Kanon als „Lese-“ und damit zugleich auch „Auswahlhilfe“ zugrunde legen: „Gottes Volk“, „Heil“ und „Königtum Gottes“.[17]
|108|Innerhalb der Bibeldidaktik findet vor allem im Blick aufs AT und seine Verwendung im Primarbereich eine intensive Reflexion bezüglich der Textauswahl statt; ein eigener Diskurs kreist um altersspezifische Aspekte[18]. Dabei werden je nach Zielsetzung unterschiedlichste Kriterien angeführt: „Urbildliches“ und „Typisches“, historisch-kritische, hermeneutische, rezeptionsästhetische und entwicklungspsychologische Aspekte, Erzählbarkeit und sprachliche Form, didaktische Erschließbarkeit[19], was zu teilweise widersprüchlichen Auswahlentscheidungen führt. So gilt die Noach-Erzählung je nach Kriterium als konstruktiv oder destruktiv, das Buch Ijob als kindgemäß oder überfordernd, das Buch Jona als geeignet oder ungeeignet. Ähnlich verhält es sich mit den Kriterien, die für die Textauswahl bei Kinderbibeln benannt werden.[20] Sammlungen „elementarer Bibeltexte“ bieten eine Auswahl, ohne sie in jedem Fall zu begründen.[21] Von welchen Kriterien sich die Verantwortlichen für die Bildungspläne leiten lassen, warum Texte beibehalten, ausgeschieden oder neu aufgenommen werden, wird nicht transparent.
Angesichts der unterschiedlichen Kriteriologie und Auswahl legt sich der Schluss nahe: „Es existiert keine Palette von biblisch nötigen Erzählungen, die sozusagen eine unverzichtbare Vorauswahl bilden“.[22] Nicht nur im Blick auf die Primarstufe spricht „viel dafür, sich nicht zu sehr auf die Vorstellung eines aus religionsdidaktischen Prinzipien zwingend deduzierbaren und damit allgemein verbindlichen ‚biblischen Grundschulkanons‘ zu versteifen“.[23] Gerade die aus |109|der Kompetenzorientierung erwachsende größere Freiheit in der Auswahl von Texten ruft dazu auf, vom klassischen religionspädagogischen Kanon zugunsten unbekannter und wenig beachteter biblischer Traditionen abzuweichen.
Den Kanon im Kanon aufbrechen:
Hinweise für die praktische Arbeit
Wenn ein für die religiöse Bildung notwendiger „Kanon im Kanon“ nicht vorgegeben, sondern variabel ist, wenn vorliegende Textsammlungen allenfalls den Charakter von Orientierungshilfen haben, wenn grundsätzlich mehr Texte geeignet sind, als die jeweiligen Kinderbibeln oder Bildungspläne vorgeben, bedarf die Auswahl in der jeweiligen Situation von Unterricht, Katechese oder Bibelarbeit je neu didaktischer Überlegungen. Die Erkenntnis, dass die Auswahl von Texten vor aller Erschließung eine grundlegende didaktische Aufgabe darstellt[24], ist ein erster Schritt, um möglicher Kanonbildung vorzubeugen. Als unverzichtbar hat sich hier das Prinzip der Elementarisierung erwiesen, das exegetische, existenzielle, erfahrungsorientierte