Die größten Klassiker der deutschen Literatur: Sturm und Drang. Johann Gottfried Herder
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W. schildert seinen Laokoon,1 mit dem Gefühl, als hätte er ihn selbst geschaffen: »Der Schmerz, welcher sich in allen Muskeln und Sehnen des Körpers entdecket, und den man ganz allein, ohne das Gesicht und andre Theile zu betrachten, an dem schmerzlich eingezognen Unterleibe beinahe selbst zu empfinden glaubt; dieser Schmerz, sage ich, äußert sich dennoch mit keiner Wuth in dem Gesichte und in der ganzen Stellung. Er erhebt kein schreckliches Geschrei, wie Virgil von seinem Laokoon singet; die Oeffnung des Mundes gestattet es nicht: es ist vielmehr ein ängstliches und beklemmtes Seufzen, wie es Sadolet beschreibt. Der Schmerz des Körpers und die Größe der Seele sind durch den ganzen Bau der Figur mit gleicher Stärke ausgetheilet und gleichsam abgewogen. Laokoon leidet, aber er leidet, wie des Sophokles Philoktetes: sein Elend gehet uns bis an die Seele; aber wir wünschten, wie dieser große Mann, das Elend ertragen zu können.«
»Laokoon leidet, wie des Sophokles Philoktet.« Von dieser Vergleichung gehet Hr. Leßing2 aus, und will, daß es keine Vergleichung sey: daß Sophokles Philoktet nicht blos ängstlich und beklemmt seufze, sondern klage, schreie, mit wilden Verwünschungen; das öde Eiland schrecklich anfülle, und auch das Theater von Tönen des Unmuths, des Jammers, der Verzweiflung durchhallen lasse. Winkelmann muß also zuerst wohl nicht recht gelesen haben, und zweitens also übel vergleichen, übel folgern.
Der Philoktet Sophokles mag entscheiden – wie leidet dieser? Es ist sonderbar, daß der Eindruck, den dieses Stück bei mir von lange her zurück gelassen, derselbe ist, den W. will: nämlich der Eindruck eines Helden, der mitten im Schmerz seinen Schmerz bekämpft, ihn mit holem Seufzen zurückhält, so lange, als er kann, und endlich, da ihn das Ach! das entsetzliche Weh! übermannet, noch immer nur einzelne, nur verstolne Töne des Jammers ausstößt, und das übrige in seine große Seele verbirgt. Lasset uns Sophokles aufschlagen, lasset uns lesen, als ob wir sähen, und ich glaube, wir werden den nämlichen Philoktet gewahr werden, den Sophokles schuf, und Winkelmann anführt, wie er geschaffen ist.
Mit Anfange des dritten Aufzuges überraschet ihn der Schmerz; aber mit brüllendem Geschrei? Nein: mit einem plötzlichen Stillschweigen, mit einer stummen Bestürzung, und da diese sich endlich lösen, mit einem holen verzognen ἆ ἆ ἆ, das sich auch kaum vom Neoptolem will hören lassen.3 Was ist dir? fährt dieser auf. »Nichts böses, gehe nur, mein Sohn;« antwortet Philoktet, und wie anders, als mit einem Gesicht voll Liebe, voll zurückhaltendes Heldenmuthe. So geht die Scene des stummen Schmerzes fort: der bekümmerte, der unruhige, der fragende Neoptolem, und Philoktet, der – nicht brüllet und tobet, der seinen Schmerz beklemmt, ihn eine große Zeit selbst dem Neoptolem verbergen will, und nur immer zwischen inne mit einem bangen ιω ϑεοι den Göttern klaget. Und eben diese stumme Scene des Schmerzes, von welcher, Wirkung muß sie auf den Zuschauer gewesen seyn? Er sieht Philoktet leiden, stumm, nur in einer verzognen Geberde, nur mit einem beklemmten Ach! leiden; und wer fühlt dieß beklemmte Ach! nicht mehr, als das brüllende Geschrei eines Mars, der in der Schlacht verwundet, wie zehn tausend Mann, oder warum nicht lieber, wie zehn tausend Ochsen? aufbrüllet? Hier erschrickt, dort fühlet man: mit Philoktet mitleidend bestürzt, als Neoptolemus, banget man, weiß nicht, woran man ist, was man thun, wie man helfen soll? Man tritt auf sein trauriges ἆ ἆ zu ihm: »Wie denn? du leidest! du redest nicht! Warum so verschlossen? du wirst gepeiniget? warum seufzest du zu den Göttern?« – Und ein Philoktet antwortet mit verzognem Lächeln, mit einem Gesicht, in welchem sich Schmerz und Muth und Freundlichkeit mischen: Ich? Nein! ich empfinde Erleichterung! ich flehe zu den Göttern um glückliche Schiffahrt. Welch ein Griechischer Garrik gehöret dazu, den Schmerz und den Muth, die menschliche Empfindung und die Heldenseele hier abzuwiegen!
Uebermannet endlich vom Schmerz unterliegt er; er bricht aus – aber in Töne der brüllenden Verzweiflung, des wütenden Geschreies? Nichts! in ein trauriges ἀπόλωλα τέκνον. βρύκομαι τέκνον. παπαῖ. ἀπαππαπαῖ, παπαῖ, παπαῖ, παπαῖ, παπαῖ: das sind seine gezognen Klagetöne! Er bittet um die Heldencur, seinen Fuß abzuhauen: er winselt. – Nichts mehr? Nein, nichts mehr! Er war ausgebrochen, wie Neoptolem sagt, nur in ἰυγὴν καὶ ςόνον in Aechzen und Seufzen, und Ach! wie muß dieß rühren! Sein gekrümmter Fuß, sein verzognes Gesicht, seine vom Seufzer erhobene Brust, die vom Aechzen hole Seite, sein halbes Ach! – – Weiter geht der Dichter nicht: und um zuvor zu kommen dem Uebertreiben des Ausdrucks, läßt er Philoktet vor Schmerz in Unsinn fallen! So sehr hat er gelitten, so sehr seine Kräfte zusammen gefasset, daß er raset.
Er kommt wieder zu sich! er erholt sich! aber die Krankheit kommt, wie ein verirrter Wandrer wieder: schwarzes Blut sprüht hervor: sein ἀπαππαπαῖ fängt an: er bittet, ächzet; ein Fluch auf Ulysses, ein Zorn mit den Göttern, ein Ruff an den Tod, aber alles nur ruckweise, nur Augenblicke! der Schmerz läßt nach; und siehe! den Augenblick der Erholung wendet er an, um den dritten Anfall zu erwarten. Er kommt, und da der Theatralische Ausdruck nicht höher steigen kann, so läßt ihn Sophokles – alles, was er ihn thun lassen kann, um ihn nicht schreien zu lassen: schwärmen, ächzen, bitten, zürnen, athemlos zu sich kommen und – – einschlafen. Peinlicher Auftritt! der höchste am Ausdrucke, den vielleicht je ein Tragisches Stück gefodert, und nur ein Griechischer Schauspieler erreichen konnte.
Aber in diesem peinlichen Auftritte, was ist da das Höchste am Ausdruck, was ist der Hauptton desselben? Etwa Geschrei? So wenig, daß Sophokles ja auf nichts sorgfältiger scheint, als zu vermeiden, daß dieß nicht Hauptton würde. Wo sind »die Klagen, das Geschrei, die wilden Verwünschungen, mit welchen sein Schmerz das Lager erfüllte, und alle Opfer, alle heilige Handlungen störte, die schrecklich durch das öde Eiland erschollen;«4 wo sind sie? auf dem Theater? Ja! aber in der Erzälung,5 in der Erzälung seines Feindes Ulysses, der sich darüber rechtfertigen will, daß man ihn ausgesetzt, und verlassen; nicht aber in der Aktion, nicht als ob dieß Geschrei Hauptausdruck wäre. Ein andrer Dichter, ein Aeschylus z.E. würde freilich hieraus mehr Hauptton gemacht, und vielleicht, wie durch seine Evmeniden eine Schwangere erschreckt haben, zu misgebähren: bei einem übertriebenen neuen Tragikus würde Philoktets Gebrülle gewiß schon hinter den Scenen anfangen, und er sich mit wüstem, wildem Geschrei aufs Theater stürzen, wie z.E. Hudemanns Kain durch den schönsten und neuesten Coup de Theatre sich vor dem Eintritt mit seiner Keule meldet, sie vor sich hin wirft, und ihr nach, Länge lang aufs Theater hinfällt. Aber bei dem weisen Sophokles? – Wie hat er den Ton der Angst abgewogen? wie sorgfältig auf ihn bereitet! wie lange unterdrückt! wie oft unterbrochen! wie sehr durchgängig gemildert! Der ganze Auftritt kann ein Gemälde des Schmerzes heißen durch alle seine Grade vom stummen, bis zum betäubenden Schmerze, der sich selbst gleichsam ertödtet; aber im Ganzen, doch das Gemälde des zurückgehaltenen und nicht des ausgelassenen Schmerzes, dieß ists unstreitig bey Sophokles vom Anfang zu Ende.
Und daher auch die Kürze des Akts, der kurz in Worten, aber lang in der Vorstellung ist. Käme es hier auf das Schreien, auf die jammervollen Ausrufungen, auf das ausgestoßne und »abgebrochne häufige ἆ, ἆ an,« wie Hr. L.6 will: so weiß ich nichts was entweder schneller auf einander folgen, oder den Zuschauer unwillig machen muß. Aber das Zurückhalten, das peinliche Verschmerzen, die langen Kämpfe mit dem Weh im Stillen, die endlich mit einem verstohlnen ὠ μοι! μοι! geschlossen werden; diese dehnen, diese schleichen, und sie sind der Hauptton des ganzen Auftritts. Nun setzen Sie noch den dämmernden Chorus hinzu, der dem entschlafnen Philoktet sein Schlaf- sein Ruhelied, in sanften langsamen Zügen singet, und hier nicht bloß den Akt beschließet, sondern selbst im Akte ist; denn der schlafende Philoktet lieget