Die größten Klassiker der deutschen Literatur: Sturm und Drang. Johann Gottfried Herder
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So weit sind wir also, daß Homer »das Prädikat des Schreiens, nicht als einen allgemeinen Ausdruck des körperlichen Schmerzes,« nicht als eine absolute Bezeichnung, der leidenden Natur ihr Recht wiederfahren zu lassen gebrauche; es muß in dem Charakter eben dessen, den er schreien läßt, eine nähere Bestimmung dazu liegen, daß eben dieser schreiet und kein andrer. Und da dünkt es mich jetzt unbestimmt, von seinen Helden allgemein zu reden,14 was sie nach ihren Thaten und Empfindungen sind; denn keiner derselben ist an Empfindungen so wenig, als an Worten, Geberden, Körper, Eigenschaften dem andern gleich; jeder ist eine eigne Menschenseele, die sich in keinem andern äußert.
Noch minder scheinet mir »das Schreien« der wichtige unveränderliche Zug zu seyn, der zu der unveränderlichen Aeußerung eines Menschengefühls gehören müßte: denn einer kann seufzen, der andre ächzen, der dritte schreien, und ein Hannibal in seinem äußersten Kummer lachen. Am mindesten aber ists nothwendige Bestimmung des Helden, als Mensch betrachtet: so daß er ein Unmensch seyn müßte, wenn er nicht schrie. Wäre dieß: so hätte Homer lauter Unmenschen besungen. Sein Agamemnon, ein König der Völker, der herrlichste der Griechen vor Troja wird im tapfersten Gefecht verwundet: er fährt zusammen15 – aber aufzuschreien, zu weinen, vergißt er; er faßt sich, und stürzt mit seinem Spieße desto schärfer in die Feinde: sollte er deßwegen kein Mensch an Empfindung seyn, weil er nicht wie Mars, oder die Dame Venus aufschrie? Hektor, der tapferste Trojaner, wird von des Ajax großem Felsenstein niedergeworfen, und auf der Brust gequetscht: Spieß und Schild und Helm entfallen: rings um ihn klingen die ehernen Waffen16 – aber aufzuschreien vergißt er. Man muntert ihn auf, gießt ihm Wasser ein: er kommt zu sich: blickt auf; aber er sinkt in die Kniee, speiet schwarzes Blut – und doch denkt der Unmensch an eins nicht, über seine Brustschmerzen, über seine Seitenstiche zu schreien und zu weinen. – So mit allen Helden Homers, der auch in diesem Stücke Charakter beobachtet. Menelaus wird vom Pfeile Pandarus unvermuthet und im wichtigsten Zeitpunkte getroffen: sein Blut rinnt: Agamemnon fährt zusammen: Menelaus selbst;17 aber nichts mehr! da er den Pfeil in der Wunde sieht, zieht er ihn aus, und läßt seinen Bruder und seine Mitsoldaten um sich seufzen. Man weiß, daß Homer eine ordentliche Leiter der Tapferkeit habe, und er hat sie auch in dieser anscheinlichen Kleinigkeit sogar. Ulysses18 hält deßwegen seinen Schmerz zurück, weil er die Wunde nicht tödtlich fühlt; Agamemnon und Menelaus fahren19 bei der Verwundung doch noch zusammen; aber endlich der verwundete Diomedes »stand, rief dem Sthenelus, ihm den Pfeil aus der Wunde zu ziehen; und da das Blut quoll, so strömte seine Empfindung, statt in Thränen und Geschrei, in feurige Gebete wider die Feinde aus.20 Solche Unmenschen sind die Helden Homers, und je größerer Held, je größerer Unmensch: sein Achilles ist sogar am Körper unverletzlich.«
Ists also bei Homer, daß seine Helden schreien und weinen müssen, »um der menschlichen Natur treu zu bleiben, wenn es auf das Gefühl der Schmerzen, wenn es auf die Aeußerung dieses Gefühls durch Schreien oder durch Thränen ankommt?«21 Ich wollte nicht, daß ein alter Grieche, dessen Heldenseele, als ein seliger Dämon noch in der Welt unsichtbar wandelte, diese Behauptung läse. Was? würde er sagen, was ist wohl einem in die Schlacht ziehenden Helden natürlicher, als verwundet, getroffen werden; sich fürchten also kann er, wenn ihn ein unvermutheter Pfeil trifft; aber in der Schlacht schreien und weinen, das thut kein homerischer Held der Griechen; selbst kein Held der Trojaner, die doch immer Homer in kleinen Zügen herunter setzt. Einem Hektor22 in seinem Tode entsinkt, selbst bei seiner letzten sterbenden Bitte, keine Thräne, kein Ton des Geschreies: ein Sarpedon23 knirscht, da er stirbt, und je tapferer, um so gefaßter bei dem Schmerze. Nur die Feigen zittern und weinen und schreien: Pherekles, der feige Flüchtling, und die weichliche Venus, und der Eisenfressende Trojanische Mars. So dichtet mein Homer.
Und so hält