Die größten Klassiker der deutschen Literatur: Sturm und Drang. Johann Gottfried Herder
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Ich kann meine Materie nicht vollenden; allein zusammen genommen diese Einzelnheiten, wird man ein Zeitalter gewahr, da die Helden, so weit sie über die Menschliche Natur erhoben seyn mögen, doch in dem Gefühle der Betrübniß, und in der Aeußerung derselben durch Thränen, derselben treu bleiben, treuer bleiben, als wir, bei denen dies sanfte Gefühl entweder erstickt, oder in eine weibische Ueppigkeit umgeschmolzen wird. Zurück also in diese Welt setze ich mich, wenn ich die Helden Homers und die Griechischen Tragödien mit ganzer Seele fühlen will: allein auf Griechenland möchte ich dieß Gefühl nicht einschränken: denn wohin das beschriebene Menschliche Zeitalter trift, da auch dieß Gleichgewicht zwischen Tapferkeit und Empfindung; und dieß, dünkt mich, ist überall das Zeitalter zwischen der Barbarei eines Volks, und zwischen der zahmen Sittlichkeit, dem höflichen Schein, in dem wir leben. In diesem stirbt auf gewisse Art Vaterland, Ehe, Geschlecht, Freund und Mensch ab, und mithin erstirbt auch hierum das Gefühl, und die Aeußerung desselben, die Thräne.
Aber die Empfindung des körperlichen Schmerzes, kann die sich ändern? Ein Schlag bleibt ein Schlag, Wunde bleibt Wunde, eine Ohrfeige eine Ohrfeige, und wird es, so lange die Welt steht, bleiben. Es ist also nicht der nämliche Fall dieser mit den vorigen Empfindungen, und unser weichlicher Zustand hat vielmehr das Gefühl der Schmerzen unendlich, und oft zum Weibischen erhöhet. Hiernach muß es also umgekehrt seyn, daß, wenn ein Griechischer Theseus, Herkules, Philoktetes, einen Schmerz, eine Wunde einmal fühlet, so müßte ein Sybarit unsrer Zeit ihn siebenfach fühlen, und wenn also »das Schreien der natürliche Ausdruck des körperlichen Schmerzes, das Recht der leidenden Natur, ein Charakterzug Griechischer Helden seyn soll,« so folgt, daß, wenn jener Einmal, der unsre bei siebenfach heftigerer Empfindung auch siebenfach stärker schreien dörfte und sollte, um – ein Held des Homers zu seyn.
Wie sollte es denn nun gekommen seyn, daß »wir feinern Europäer einer klügern Nachwelt gelernt haben, über unsern Mund und Augen zu herrschen, und uns also so grausam das Privilegium der leidenden Natur versaget haben?« Wenn wir die Empfindungen für Vaterland, Freund, Geschlecht, Menschheit und was sey, mithin unter diesen Empfindungen das weiche Gefühl des Schmerzes darüber verloren, und den Verlust, den Mangel derselben mit Anstand und Artigkeit überdeckt haben, so läßt sich das erklären. Nun aber soll uns am körperlichen Schmerz ein größerer Grad von Empfindung beiwohnen, und doch weniger, unendlich weniger Rechte der leidenden Natur? Ja noch dazu, was bei den Heldengriechen, bei minderm Anlasse des Gefühls, Ehre, oder wenigstens erlaubt war, sollte bei uns Weichlichen Schande, und durch den Anstand, der doch wenigstens den Schein der Stärke geben soll, verboten seyn? und zwar als ein Zeichen der Schwäche verboten? – –
Und dieß wäre je bei den Griechen ein Charakterzug Homerischer Helden gewesen? So kenne ich meinen Homer nicht; so will ich nicht meine Griechen kennen. Wenn ein Agamemnon2 in der Versammlung über den Verlust der Griechen, an dem er durch den Zank mit Achilles Schuld war, weinet; so liebe ich seine Königlichen Zähren: sie fließen für Kinder: sie erleichtern in ihrem Strome, den Homer mit einem Bache vergleichen kann, sein trauriges väterliches Herz; dieser Agamemnon aber bei seiner Verwundung schreie und heule mir nicht. Wenn Achilles, vom Agamemnon öffentlich beleidigt, seine Ehre fühlt, und vor seiner Mutter Thetis weinet:3 so sehe ich seine Ruhmliebende Thränen gern: ich weine mit, mit dem jungen Helden: aber bei einer Verwundung weine und schreie er nicht, sonst ist er Achilles nicht mehr. Um seinen Freund Patroklus heule und ächze und traure er;4 ich fühle seine Thränen und sein edles Herz: ich würde ihn nicht verehren, wenn er ein stoischer Held wäre: so seufze Agamemnon5 über seinen verwundeten Bruder, und Priamus über seinen erschlagenen Sohn: das sind Leiden der Seele, und edle Thränen, mit denen ja das Geschrei und das Weinen über eine Wunde nicht in Vergleich kommt. Keiner von den Helden Homers schreiet und weinet über so etwas, und sollte es lohnen, den ganzen Homer zu ändern, damit der Leßingsche Satz wahr werde: »So weit auch Homer sonst seine Helden über die menschliche Natur erhebt; so treu bleiben sie ihr doch stets, wenn es auf das Gefühl der Schmerzen, wenn es auf die Aeußerung dieses Gefühls durch Schreien, oder durch Thränen ankommt?«6 Ich wollte, Hr. Leßing hätte dies nicht geschrieben.
2 Iliad. I. v. 15.
3 Iliad. A.v. 349. 357. 360. ...
4 Iliad. Σ. v. 21. &c. Ψ v. 18. &c.
5 Iliad. Σ. v. 148.
6 Laok. pag. 5.
V.
Aber Philoktet? – Hr. Leßing hat einen großen Abschnitt1 darauf gewandt, Sophokles zu vertheidigen, daß er körperliche Schmerzen aufs Theater gebracht, und einen Helden in diesem Schmerze schreien lasse. Die ganze Vertheidigung ist von der Seite des Dramaturgs, und verräth in der seinen Manier der Entwicklung, den Verfasser der Dramaturgie; Schade aber, daß sie ganz auf unrichtige Voraussetzung gebauet ist: bei Sophokles Philoktet sey Geschrei der Hauptton des Ausdrucks seines Schmerzes, und also das Hauptmittel, Theilnehmung zu wirken, das doch nicht ist. Und denn Schade auch, daß sie blos als Dramaturgie, als Anlage zum Drama abgefaßt ist; mich dünkts besser, sich den Eindrücken der Vorstellung zu überlassen, und nichts als Dramaturg zu rechtfertigen, sondern als ein Griechischer Zuschauer auf unverstellte Eindrücke zu merken – –
Und welches sind diese Eindrücke ohngefähr? Wenn ein Griechisches Stück geschrieben ist, um vorgestellt, und nicht um gelesen zu werden, so ists Philoktet: denn die ganze Wirkung des Trauerspiels beruhet auf dem Leben der Vorstellung. Hin also mit Auge und Geist in die Atheniensische Bühne. Der Schauplatz öfnet sich2: ein Ufer ohne die Spur eines Menschen: eine einsame unbewohnte Insel mitten in den Wellen des Meeres: – wie sind diese Reisende dahin verschlagen? was wird in dieser wüsten Einöde vorgehen? – Hier, hören wir, ist Philoktet, der berühmte Sohn Pöans: Elender Einsamer! der Menschlichen Gesellschaft völlig beraubt, hier zur ewigen Einsamkeit verbannet – wie wird er seine Tage hinbringen? – Und er ist krank – krank am Fuße mit einem faulenden Geschwüre! – Noch ärmerer Einsiedler! wer wird dich hier pflegen, dir Speise schaffen, dich reinigen und verbinden? – und wie bist du hergekommen? ach! ausgesetzt – ohne Barmherzigkeit, ohne Hülfe – und wegen eines Verbrechens, wegen seines Eigensinns?