Die größten Klassiker der deutschen Literatur: Sturm und Drang. Johann Gottfried Herder
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Theatralische Rührung also! und wodurch kann ich, wenn die Hauptidee des Stücks körperlicher Schmerz ist, gerühret werden? welches sind alsdenn die Hauptmittel zur Erregung der Sympathie? Ich weiß nichts anders, als die gewöhnlichen Aeußerungen, Geschrei, Thränen und Zückungen: diese giebt auch Hr. Leßing15 dafür aus, und giebt sich viele Mühe,16 bei ihnen den nicht beleidigten Anstand, und ihre entschiedne Wirkung zu erklären. Gut also! aber, wenn das Wimmern, das Schreien, die gräßlichsten Zückungen, das Mittel, das Hauptmittel sind, mir die Idee des körperlichen Schmerzes einzupflanzen, und mein Herz zu treffen: was kann denn die beste Wirkung dieses treffenden Schlages seyn? Mit körperlichem Schmerze kann ich nicht anders, als körperlich, sympathisiren: d.i. meine Fibern kommen durch die Theilnehmung in eine ähnliche Spannung des Schmerzes, ich leide körperlich mit. Und wäre dieß Mitleid angenehm? Nichts weniger, das Zetergeschrei, die Zuckung fährt mir durch alle Glieder, ich fühle sie selbst; die nämlichen convulsivischen Bewegungen melden sich bei mir, wie bei einer gleichgespannten Saite. Ob der in Zuckung liegende, winselnde Mann Philoktet sey, geht mich nicht an: er ist ein Thier, wie ich: er ist ein Mensch: der Menschliche Schmerz erschüttert mein Nervengebäude, wie wenn ich ein sterbendes Thier, einen röchelnden Todten, ein gemartertes Wesen sehe, das wie ich fühlet. Und wo ist nun dieser Eindruck auch nur im kleinsten Maaße vergnügend, angenehm? Er ist peinlich, schon bei dem Anblicke, bei der Vorstellung, ganz peinlich. Hier ist im Augenblicke des Eindruckes an keinen künstlichen Betrug, an kein Vergnügen der Einbildungskraft zu gedenken: die Natur, das Thier leidet in mir, denn ich sehe, ich höre, ein Thier meiner Art leiden.
Und welche Gladiatorseele gehörte dazu, um ein Stück auszuhalten, in welchem diese Idee, dieß Gefühl des körperlichen Schmerzes, Hauptidee, Hauptgefühl wäre? Ich weiß keinen dritten Fall außer diesen beiden: daß ich entweder illudiret werde, oder nicht. Ist das erste, ists auch nur ein Augenblick, daß ich den Schauspieler verkenne, und einen zückenden, schreienden Gequälten sehe; wehe mir! es fährt mir durch die Nerven! Ich kann den künstlichen Betrüger, der sich mir zum Vergnügen, dem Augenscheine nach, aufhängen wollte, keinen Augenblick mehr sehen, so bald der Betrug schwindet, so bald er wirklich worget. Ich kann den Seiltänzer keinen Augenblick mehr sehen, so bald ich ihn fallen, in das unterliegende Schwert stürzen sehe, so bald er mit zerschlagnem Fusse da liegt. Der Anblick Philoktets ist meinem Gesichte unausstehlich, so bald ich es denke, daß er der leidende Philoktet ist. Blos eine Fechterseele kann in dieser Illusion des körperlichen Schmerzes, wie an jenem sterbenden Fechter, studiren wollen: wie viel Seele noch in ihm sei? Blos ein Unmensch kann, nach der Fabel von Michael Angelo, einen Menschen kreuzigen, um zu sehen, wie er stirbt.
Hr. Leßing mag sagen,17 daß »nichts betrüglicher sey, als allgemeine Gesetze für die Empfindungen geben zu wollen.« Hier liegt das Gesetz in meinem unmittelbaren Gefühle selbst, und zwar in dem Gefühle, das am weitesten von allgemeinen Gründen abgehet, das mir, als einem sympathisirenden Thiere, beiwohnt. So bald der leidende Körper Philoktets mein Hauptaugenmerk ist, so bleibts, »daß18 je näher der Schauspieler der Natur kommt, desto empfindlicher Augen und Ohren beleidigt werden müssen.« Ein Meer unangenehmer Empfindungen wird über mich ergehen, und kein angenehmer Tropfe mischt sich dazu. Die Vorstellung des künstlichen Betruges? – ist durch die Illusion gestört; ich habe nichts, als den Anblick eines zückenden, mit dem ich beinahe mit zücke, eines Wimmernden, dessen Ach! mir das Herz durchschneidet. Es ist kein Trauerspiel mehr, es ist eine grausame Pantomime, ein Anblick, Fechterseelen zu bilden: ich suche die Thüre.
Nun aber lasset uns den zweiten Fall setzen, daß der Griechische Schauspieler mit aller seiner Skävopoeie und Deklamation das Geschrei und die Verzuckungen des Schmerzes nicht bis zur Illusion bringen könne (etwas, das Hr. Leßing nicht zu behaupten getrauet,19 gesetzt also, daß ich ein kalter Zuschauer bleibe: so kann ich mir ja keine widerlichere Pantomime gedenken, als nachgeäffte Zuckungen, brüllendes Geschrei, und wenn die Illusion vollkommen seyn soll, ein übler Geruch der Wunde. Kaum würde also alsdenn der Theatralische Affe Philoktets zum Zuschauer sagen können, was der wahre Philoktet zum Neoptolem: »ich weiß! du hast es alles nichts geachtet; weder mein Geschrei, noch der üble Geruch wird dir Ekel erregt haben.«20 Bei einer widerlichen, und zum Unglücke nicht täuschenden Pantomime ist dies unvermeidlich.
Ich schlage die Litteraturbriefe21 auf, und finde den Ersten ihrer Verfasser an gründlicher Philosophie in einem andern ähnlichen Falle meiner Meinung. Er untersucht, »warum die Nachahmung des Ekels uns nie gefallen können,« und giebt zu Ursachen an, »weil diese widrige Empfindung nur unsre niedere Sinne trifft, Geschmack, Geruch und Gefühl: die dunkelsten Sinne, die nicht den geringsten Antheil an den Werken der schönen Künste haben: weil zweitens die Empfindung des Ekels widrig werde, nicht durch die Vorstellung der Wirklichkeit, wie bei andern unangenehmen Eindrücken, sondern unmittelbar durchs Anschauen: und weil endlich in dieser Empfindung die Seele keine merkliche Vermischung von Lust erkennet.« Er schließt also das Ekelhafte ganz von Nachahmung der schönen Künste, und den höchsten Grad des Entsetzlichen von der Pantomimischen Vorstellung im Trauerspiele aus, »weil theils die Täuschung hierinn schwer wäre, theils auch die Pantomime auf der tragischen Schaubühne nur in den Schranken einer Hülfskunst bleiben müßte.« Ich wollte, daß der Philosophische D. sich über meinen Vorwurf erklären möchte: denn der körperliche Schmerz Philoktets hat mehr als einen dieser Gründe wider sich. Seine Täuschung kann nur den dunkelsten Sinn, das thierische Mitgefühl, erregen: die Empfindung darüber ist allemal Natur, und niemals Nachahmung: sie hat nichts Angenehmes mit sich: sie ist kaum der Illusion fähig: sie macht die tragische Bühne zur Pantomime, die, je vollkommner sie wäre, um so mehr zerstreuete. Schlechthin kann also der körperliche Schmerz keine Hauptidee eines Trauerspiels seyn.
Und ists doch bei Sophokles Philoktet, bei einem Meisterstücke der Bühne! »Wie manches, sagt Hr. Leßing,22 würde in der Theorie unwidersprechlich scheinen, wenn es dem Genie nicht gelungen wäre, das Widerspiel durch die That zu erweisen.« Ich glaube, schwerlich. Was in der Theorie wahrhaftig unwidersprechlich ist, und nicht blos so scheint, wird nie von einem Genie widerlegt werden, zumal wenn die Theorie in unsern unerkünstelten Empfindungen läge. Mich dauert die Mühe, die sich Herr Leßing giebt, Sophokles zu rechtfertigen, und den Engländer Smith zu widerlegen;, beide brauchen es nicht: und wenn sie es brauchten, wenn Sophokles Hauptzweck wäre, durch die Aeußerungen des körperlichen Schmerzes seinen tragischen Endzweck zu erreichen: so hätte L. mit allem, was er Gutes sagt, wenig gesagt.
Aber Sophokles, das tragische Genie, fühlte nur gar zu viel dagegen, diesen Zweck zu erreichen, und gieng ganz einen andern Weg, der ihm nicht mißrathen konnte, und den Hr. L. wie es scheint, von einer Nebenseite gesehen. Ich muß aus dem vorigen Eindrucke, den ich davon