Die größten Klassiker der deutschen Literatur: Sturm und Drang. Johann Gottfried Herder
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Nun fällt uns die Wohnung des Elenden näher in die Augen – eine unbewohnte Höle! – Ist noch etwas Hausgeräth und Speise darinn? zertretenes Gras – ein elendes Lager der Thiere! – hier muß der Held liegen, ohne den Troja nicht kann erobert werden: ein Becher von Holze, etwas Feuergeräth – ist der ganze Schatz des Königes – und o Götter! hier Eitervolle Lappen, Zeugen seiner Krankheit! – Er ist fort – wie weit kann der Elende fort hinken? Ohne Zweifel mußte ers – nach Speise vielleicht! vielleicht nach einem lindernden Kraut! daß ers doch fände! daß man ihn doch sähe! Indessen3 geht die Scene des Betruges an, da Ulysses den Neoptolemus so weit bringt, daß dieser gutherzige Redliche, der Sohn des redlichen Achilles, einen Fremden, einen Elenden, mit List durch Lügen und Ränke gefangen nehmen soll. Ich weiß es, daß die Griechen, zumal Sophokles, jene unmoralische Ungeheuer so hasset, als er nur die Moralischen hassen mag, und daß er auf seinem Theater nichts als Menschen, weder Engel, noch Teufel vorstellet; allein Ulysses, wie er hier erscheint, ist nicht blos der schlaue, der verschlagene Ulysses Homers: er ist ein Verführer, der offenbar Grundsätze der Treulosigkeit verräth, die alle Tugend übern Haufen werfen, und pfui des Bösewichts! bei dem das Laster schon zur Sprache durch Grundsätze geworden. Sophokles also will lieber die Vorwürfe der Moralitäts-Pedanten auf sich nehmen, die jeden Ausspruch von der Bühne zu einem Sittenspruche des Pythagoras haben wollen: er malt seinen Ulysses lieber schwärzer, als er sonst zu malen pflegt – um uns nur desto mehr für den armen Philoktet einzunehmen, der von ihm hintergangen ist, und hintergangen werden soll.
Der Chor und Neoptolem sind nun4 beschäftigt, dieses Mitleid für Philoktet tiefer in uns zu prägen; sie wiederholen die vorigen Jammerzüge, vermehren sie durch Vermuthungen und – – da läßt sich von weitem ein Aechzen hören! Daß es ein Aechzen und kein Gebrüll sey, zeigt das Betragen Neoptolems, der, über dem mit seinem Auftrage bestürzt, nicht weiß, woher es kommt? Das Ach kommt näher, es wird ein Wimmern, ein tiefes klägliches Ach – nun ists erst vernehmlich! Sie haben sich nicht geirrt: Philoktet muß kommen, und ach! der Hirte kommt mit einem Tone der Schalmei, und Philoktet mit einem Tone des Jammers – er tritt auf! oder vielmehr er schleicht sich hinan, um –
Nun wird er sich mit Gebrüll aufs Theater werfen? zu schreien anfangen, daß Peter Squenz sagen möchte: lieber Löwe, brülle noch einmal! Wer doch den Kunstrichtern einmal das Gebrüll ausreden könnte, von dem im Griechischen so wenig Spur ist! Einen langen Aufzug durch5 spricht Philoktet mit dem Fremden, ohne daß er ans Schreien gedenkt: selbst das vorher von ferne tönende Ach hat Sophokles hinter den Scenen gelassen. Der weise Sophokles! wie wird mich der Mann weibisch dünken, wie wird mir sein Ach! verächtlich seyn können, daß er nur hin ächzte, da er allein zu seyn glaubte, das er vor den Fremden gleich verbirgt, und im Gespräche immer bergen kann. Der Leidende ist ein Held.
Und für diesen Charakter sorgt Sophokles genau. Er muß sich erst mehr zum Freunde unsrer Seele machen,6 ehe unser Körper sympathisiren könnte, und wie bekümmert ist der Arme um die Fremden? Nichts vermuthet er weniger, als daß sie ihm nachstelleten; der Gutherzige hält sie für Verschlagne, für solche, die seines Theilnehmens werth wären – der Menschenfreund! Er sieht die Griechischen Kleider; ein böses Erinnerungszeichen für ihn an die treulosen Griechen; aber dieß hat er vergessen. Wie wünscht er, daß sie Griechen wären: wie verlangt er, wieder einen Griechischen Laut zu hören! das ist ein ehrlicher Grieche, der kann Griechen interessiren. – Er hört Griechisch: der arme Philoktet hat für Freude all sein heftiges Weh vergessen. Er lernt den Sohn Achilles kennen, den Sohn seines zärtlichen Freundes: er wird offner; er erzält ihm seine Geschichte, rührend wie wenn die Penia selbst erschiene. Er ist ein Freund seiner Freunde: dem todten Achilles opfert er seine Zähre der Freundschaft; er vergißt sich selbst, und seufzet über einen Todten, der glücklicher ist, als er. Er ist ein Freund seiner Freunde; der Sohn des Achilles sieht ihn herzlichen Antheil an sich nehmen, selbst da er ihn hintergeht. Er trauret um den Tod der Helden, und noch edler, er trauret blos deßwegen, weil sie brave Leute sind: die Nichtswürdigen verflucht er! Wie sehr hat uns nun Philoktet für sich interessirt, als Menschenfreund, als ein Grieche mit Leib und Seele, als ein Held. Und dieser Held soll hier, fern von dem Wetteifer mit andern Helden, auf einer wüsten Insel modern? Schmerzliche Abwesenheit, da jene Thaten thun, da jene mit Lorbeern starben, so soll er an einer Wunde ächzen, die ja keine Heldenwunde ist. Er, eine so Griechische Seele, muß fern von seinem Vaterlande, fern von seinem liebenden Vater, der vielleicht schon zu den Schatten gehangen, sein Leben verzehren: er ein betrogener Redlicher – – o Neoptolem, du willst ihn verlassen! o daß ihn Philoktet anflehete! Er thuts, und so dringend: er bestürmt sein Herz von so vielen Seiten, daß die Fürbitte des Chors: erbarme dich seiner! auch unsre Einsprache wird. Wir ärgern uns über Neoptolem, daß ihm der Ekel seiner Krankheit noch Einwendung macht, und lieben ihn, da er – – es ihm verspricht; Er wird ihn doch nicht betriegen! siehe! wie er ihm flehte, wie er ihm danket, wie er ihn noch zu guter Letzt in seine Höle ladet und –
Nun7 kommt der verkleidete Kaufmann. Er hört: »er soll nach Troja, Ulysses habe dieß dem Heere öffentlich versprochen,« und – den Kaufmann hält er kaum seiner Antwort werth. Eine einzige Heroische Verwunderung: »Götter! dieser Elende, dieser Treulose hat schwören dörfen, mich ins Lager zu bringen?« verräth die ganze Heldenseele Philoktets: diese redet fort:8 diese will zu Schiffe: diese redliche Seele glaubt dem Neoptolem, vertraut ihm seine Waffen, vertraut sich ihm in seiner Krankheit. Wie fühle ich für Philoktet! aber für ihn den Schreienden? Noch nichts! für ihn, den Helden, den Griechen, den Edlen – und denn den im höchsten Grade Elenden, und elender noch dadurch, was man mit ihm vor hat. Noch fühlen wir blos mit seiner Seele durch die Phantasie, und jetzt erst soll die seltne Scene der Krankheit kommen. Der Chor9 bereitet auf sie, durch ein Lied auf den äußerst Jammervollen Philoktetes, und sie kommt.10 Ich habe sie vorher durchgeführt und mag sie nicht wiederholen. Mich ärgert, wenn man sie auf der einen Seite zu einem bloßen Zetergeschrei macht, und auf der andern Seite, wie z.E. Brumoi,11 unter den löblichen Franzosen für nichts, als, einen Riegel, ein Einschiebsel, daß fünf Akte voll werden. Welch eine Stille muß auf dem Schauplatze zu Athen geherrschet haben, da dieser Akt vorgieng!
Die Auftritte des körperlichen Leidens sind vorbei, und weiter darf ich nicht. Ich kehre also von der Bühne zu Athen zurück, dahin wo ich Leßingen gelassen – wie sehr sind wir aber in dem Eindrucke verschieden, den dieses Stück machen soll. Einer von beiden kann nur Recht haben, und der andre hat sich nur nicht gnug idealisiren können, um nicht zu lesen, sondern zu sehen. Damit dieß mich nicht treffe, will ich auf guter Hut seyn.
Hr. Leßing macht »die Idee des körperlichen Schmerzes« zur Hauptidee des Stücks,12 und sucht die seinen Mittel auf,13 womit der Dichter diese Idee zu verstärken, zu erweitern gewußt hat. Ich gestehe es, daß, wenn dieß die Hauptidee der Tragödie wäre, einige von Hr. L. angegebene Mittel wenig auf mich gewirkt hätten. Der Eindruck des körperlichen Schmerzes ist viel zu verworren und körperlich gleichsam, als daß er z.E. der Frage Platz ließe: