Seefahrerportraits und Erlebnisberichte von See. Jürgen Ruszkowski
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Wiese möchte lachen, aber Ernst und Verbissenheit werden stärker, als nacheinander seine Offiziere auf die Brücke klettern – das Treppensteigen im grauenvoll schlingernden Schiff kommt einer Bergpartie gleich. „Havarie, meine Herren“, ruft Wiese. Maschinen gestoppt, Schraube unklar, irgendwas muss achtern los sein.“
Der Leitende Ingenieur Dreeßen erscheint, die Stablampe noch in der Hand. „Der Maschinenassistent war gerade im Wellentunnel beim Lagerabfühlen“, berichtet er, „als es so hart metallisch krachte, als ob ein Wrackstück in die Schraube getrieben sei. Die Maschine ruckte bedenklich, so dass wir sofort stoppen mussten, wenn nicht alles auseinander fliegen sollte.“
Achtern beugen sich Andersen und der Bootsmann am Heck in Leeseite weit über die Reling, immer dann, wenn das Schiff sich gerade hoch aus dem Wasser hebt und das Deck nicht überspült ist. Jetzt rennt Andersen über das lange Achterdeck, so schnell es das Schlingern erlaubt. Mit ein paar Sätzen springt er die Leiter herauf. „Das Ruder!“, er schreit es atemlos und schon von weitem: „Das ganze Ruder ist weg! Stumpf abgebrochen - oben im Ruderschaft! Nichts mehr da!“ Auf dem Schiff ist die Hölle los, anders kann man das Auf und Ab, das Hin und Her, das unvorstellbare Schlingern des nun frei herumtanzenden steuerlosen Schiffes nicht bezeichnen. Überall in Kammern und Messen klirrt es, fallen aus Regalen und Borten Gegenstände, die als fest verankert angesehen wurden, und mit dem Essenkochen ist es nun ganz und gar aus. Die ADOLF LEONHARDT, dieses große, voll beladene, in allen Teilen neuzeitliche Schiff, ist zum Spielball der Sturmseen geworden, ohne jede Möglichkeit der Beeinflussung ist es dem Orkan, den Donnerschlägen der überrollenden Wogen preisgegeben.
Ein sofortiger Rundgang mit Offizieren, Leitendem Ingenieur, Boots- und Zimmermann, ergibt, dass die stählerne Schiffshaut, das Oberdeck, die Luken und Niedergangschotts heil sind. Das Schiff hat kein Leck. Eine Beruhigung auf den ersten Schreck! Kapitän Wiese fasst schnell seine Entschlüsse. Fremde Hilfe? Mehrere Schiffe sind in erreichbarer Nähe, wie Funkoffizier Heinen weiß. Aber wenn fremde Hilfe kommen muss, dann aus der Heimat, denn jede Hilfe kostet Geld! So geht ein Funktelegramm an die Reederei in Hamburg: ADOLF LEONHARDT Ruder verloren, Schraube unklar, ohne Leck, Mannschaft wohlauf. Erbitte Bergungsschlepper. Versuche entgegenzusegeln.“ Es folgt noch die genaue Positionsmeldung.
Entgegensegeln? Ja, irgendetwas muss getan werden, um dem gefahrdrohenden Schlingern zu begegnen, das sich manchmal fast bis zum Kentern zu steigern droht. In bestimmte Richtung legen lässt sich das Schiff jedoch nur mit etwas Vorausgeschwindigkeit und mit Steuerung, also muss für beides gesorgt werden! Fieberhaft arbeitet die gesamte Mannschaft. Niemand kann jetzt noch an Schlafen oder Essen denken, obwohl eigentlich ja noch immer Weihnachten ist. Eine Gruppe fertigt aus Holz und Eisenträgern ein Notruder, das kunstvoll außen am Schiff unter Lebensgefahr des Zimmermanns und seiner Leute verspannt wird. Eine zweite Gruppe gießt Öl auf die Wogen: Es ist ja wirklich so, dass die Ölschicht auf dem Wasser die gefährlich aufschäumenden Brecher erstickt. Aber das Gießen würde viel zu viel Schmieröl verbrauchen. Man hängte außenbords an die Luvseite viele Säcke, die mit ölgetränkten Lappen oder dergleichen vollgestopft sind und von Zeit zu Zeit neu mit Öl begossen werden. Von der Kommandobrücke und dem Oberdeck aus brüllen Kapitän Wiese und der erste Offizier Maruhn bei jeder Woge, die heranrollt, Tag und Nacht ohne Schlaf ihr „Warschau“. Dieses ununterbrochene Aufpassen ist Nerven zerreißend. Einige holen mit waghalsigen Artistensprüngen über das taumelnde und wasserüberpeitschende Deck mühsam die Persenninge zusammen, verstärken sie mit Leinen und Gurten und bereiten die Notsegel vor, die dem Schiff wenigstens etwas Fahrt geben sollen. Immer wieder brechen die Seen über das Deck, zerschlagen Holz und Eisenteile, drücken zwischen den beiden achteren Luken zur Mannschaftsmesse in das Deckshaus ein, setzen den schönen Messraum völlig unter Wasser: Stühle, Tische, Geschirr werden zermalmt und mit über Bord genommen. Und wenn das Schiff halb kenternd nach Luvseite überhängt, schäumt das Wasser vom brodelnden Kamm der nächsten Welle oben in den Schornstein hinein.
Es ist die stärkste Belastungsprobe, die man sich für Schiff und Besatzung überhaupt vorstellen kann – oder die man sich als Landratte niemals vorstellen kann. Und dann nach vielen, vielen Stunden übermenschlicher Anspannung, gelingt es, an Masten und Ladebäumen soviel Segeltuchfläche hochzuziehen, dass der stauende Sturm mit unheimlichem Druck etwas Fahrt in das Schiff bringt, so dass es nach und nach aus seiner gefährlichen Lage herausgenommen werden kann. Wind und See von achtern schieben das Schiff jetzt wieder langsam in Richtung Biscaya vor sich her, in Richtung Heimat. Ist die äußerste Gefahr überwunden?
„Ich bleibe auf der Brücke, bis wir in Nummer Sicher sind“, erklärt der Kapitän und lehnt, völlig übermüdet, jedes Anbieten auf Ablösung ab. Dieses Bleiben heißt aber Wachsein – pausenlos.
Inzwischen werden von der Hamburger Reederei unverzüglich die Verhandlungen wegen Bergung des Schiffes eingeleitet. Die Schuchmann-Reederei übernimmt die Aufgabe. Bereit wären gerade die beiden Hochseeschlepper SEEFALKE und WOTAN. SEEFALKE hatte in den beiden Sturmwochen schon zwei Bergungsfahrten hinter sich, er hatte aus der Nordsee den Motorfrachter KRAUTSAND und den schwedischen Dampfer ORVA eingebracht. Jetzt liegt er schon wieder in Borkum auf der Lauer, bis der Funkspruch eines havariert treibenden Schiffes um Bergungshilfe ruft. WOTAN befindet sich gerade auf Schleppreise im englischen Hafen Harwich.
Der Funkspruch scheucht sie beide auf: In kürzester Zeit brausen sie beide los durch die schäumende See, jeder für sich auf verschiedenen Kursen, aber mit dem gleichen Ziel: ADOLF LEONHARDT im Atlantik. So stürmen denn WOTAN und SEEFALKE auch in diesen Sturm hinaus, mit Kapitänen und Besatzungen, die kaum etwas anderes kennen. Aber diese Strecke ist besonders weit, und sie müssen dem Orkan und der hochaufbäumenden See entgegendampfen. Tage und Nächte springen die kleinen Fahrzeuge immer weiter von Welle zu Welle und fallen dazwischen so tief, dass selbst auf ihrer Kommandobrücke der Horizont völlig von der grünen See verdeckt wird. Fünf Tage und fast fünf unmenschliche Nächte dauert diese taumelnde Fahrt, immer weiter weg vom schützenden Hafen, immer weiter in ein ungewisses Wagnis hinaus. „Wir schaffen es!“ Das sagen die Schlepperkapitäne in diesen Tagen wohl häufiger als jemals.
Die Spannung wächst von Tag zu Tag und der Sturm bleibt unerträglich. Trotzdem, Meile auf Meile wird der aufgewühlten Wasserwüste ingrimmig abgetrotzt. Vom Weihnachtsfest und von Sylvesterscherzen ist in dieser Dezemberwoche da draußen nichts mehr zu spüren. Der Atlantik kocht und brüllt.
Auf der ADOLF LEONHARDT ist das Außergewöhnliche schon zum Alltag geworden. Ohne das warnende „Warschau“ des Wachhabenden auf der Brücke darf niemand es wagen, über Deck zu den achteren Mannschaftswohnräumen zu gelangen. Es ist immer ein Springen, Jumpen, ein halsbrecherisches Hasten, ein Spiel mit der Gewissheit völliger Durchnässung, mit dem Wagnis von Knochenbrüchen oder Schlimmerem. Im Maschinenraum geht der Dienst wie