DER AUFBRUCH. Michael Wächter
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Malalo hatte somit das große Glück, als Händler zu beiden Blöcken Beziehungen pflegen zu können. Und das war auf Puntirjan etwas Besonderes.
Tüngör hatte Gugay natürlich mit Absicht verschwiegen, dass er einen neuen Job bei der RAGA angetreten hatte. Er ließ ihn im Glauben, er arbeite als Werbetexter – mal hier, mal dort. Allzu neugierigen Fragen seines großen Bruders über etwaige mögliche Handelsbeziehungen zu den Sarkariern wollte er aus dem Weg gehen, ebenso möglichen Kopfgeldjägern aus Sarkar. Deshalb funkte er seine tschingesischen Kontaktleute in Clénairville an. Diese sandten einen Boten aus in das Buschland von Westsarkar – eine persönliche Nachrichtenübertragung „offline“ war ihnen hier sicherer als per Interfunk.
Der Bote mit der Warnung vor möglichen Kopfgeldjägern der Leibgarde erreichte die geflüchteten tschingesischen Zwangsarbeiter und Rebellen im Busch unversehrt, und es klappte wie am Schnürchen. Denn tatsächlich nämlich kamen kurz danach zwei windige Typen im Rebellenlager an, angeblich Flugechsenjäger. Sie hatten aber nicht nur einen sarkarischen Akzent, sie hatten auch noch Waffen der sarkarischen Armee bei sich und waren bis an die Zähne bewaffnet. Sie jagten offensichtlich nicht nur Flugechsen, und als einer der Rebellen dann auch noch Reste eines Sarkodot-Abzeichen im Gepäck dieser schlafenden „Echsenjäger“ entdeckte, war die Sache klar: Die Rebellen sorgten sicherheitshalber dafür, dass die spionierenden „Echsenjäger“ nicht mehr wach wurden. Nie wieder.
Per Interfunk, abhörsicher in Clénairville, informierte Tüngör Jenis über die Vorfälle im Busch jenseits der Grenze. Jenis war zufrieden.
„Und der sarkarische Gouverneur Arfazzu Aru hat nichts davon erfahren?“, fragte Jenis nach.
„Nein, dafür haben die Rebellen gesorgt, und die Tschingesen bekunden mir ständig ihre Freundschaft.“, antwortete Tüngör.
„Wir sollten trotzdem versuchen, in Erfahrung zu bringen, ob Aru etwas von Sarkodot über dich weiß.“
Tüngör fluchte innerlich – er wollte eigentlich erst einmal seinen Heimaturlaub genießen.
„Na gut.“, antwortete er. „Aber ich will mich dieser Sache nicht jetzt sofort annehmen. Gib mir zwei, drei Puntirjandays, okay?“
Jenis schnaufte widerwillig.
„Komm, Jenis. Schließlich habe ich Urlaub!“
Tüngör gewann den Wettstreit der Argumente, und so verabschiedete er sich von Jenis. Höchst zufrieden schloss er seine Interfunkverbindung zur RAGA.
Sein Bruder Gugay bemerkte von Tüngörs Agententätigkeit jedoch herzlich wenig. Er lebte in der tiefsten Provinz von Cisnair, im Busch. Er war ein Abenteurer und Sammler, im Busch zuhause, und hatte ihn bisher fast nie verlassen. Jetzt aber war auf dem Weg nach Clénairville, zu Malalo. Tüngör nutzte seine seltene Abwesenheit. Er genoss erst einmal seinen Urlaub, in vollen Zügen. Er flog mit Fisca aus, in den Urwald – ein gemeinsamer Bade-Ausflug zum Cisnit-Biotop an einem Seitenflüsschen des Sar. Seine Fisca! Sie war der eigentliche Grund, weshalb er nicht nur „geheimdienstlich“ im Buschland untertauchen wollte, sondern privaten Urlaub brauchte: Tüngör war in der Balz, und da zog es ihn in die Natur.
In der Balz war ein Puntirjaner nur beschränkt arbeits- und einsatzfähig. Er war in einer Phase, in der das Interesse anderen Brennpunkten galt. Die Hormone, Erben der langen Entwicklungsgeschichte des Planeten Puntirjan, bestimmten Gefühl und Gemüt, und das Handeln richtete sich ganz auf die Werbung um eine Partnerin. In der Balz wuchsen den Puntirjanern je nach Phase verschiedenfarbige, aber immer grellbunte Federn. Über ihre Beine, Flügel und Arme zeigten balzende Puntirjaner ein kompliziertes Balzverhalten, untermalt von bestimmten Schnatter- und Zwitscherrufen sowie Interfunk-Signalen. Es wurde um eine Partnerin geworben, ein Nistplatz gesucht und ein Nest zur Eiablage gebaut – notfalls sogar in der eigenen Wohnung. Die Brutzeit folgte, die Eiablage, die Schlupf aus dem Ei, die Nistzeit, und die körperliche und sozial-kognitive Lernzeit des Kükens. All diese Phasen wurden von den Eltern intensiv und gemeinsam durchlebt. Puntirjaner sind sehr fürsorgliche Eltern – und zuvor eben sehr intensiv in ihrer Balz. Diese Auszeit war nun für Tüngör gekommen, und er verbrachte sie mit Fisca im Busch.
Die Bucht lag träumend in einem von Nebel erfüllten Tal. Dichte Ravrokyl-Pflanzen umsäumten das Ufer, riesigen Ackerschachtelhalmen gleich. Summende Insektenschwärme umkreisten suchend die hellblauen Blüten einiger Rank-Pflanzen, die Ähnlichkeit mit Ackertrichterwinden zeigten. Einige Pflanzen waren von parasitären Klein-Saugern bedeckt, deren orange Panzer schwach im trüben Sonnenlicht glänzten. Tau tropfte von den Halmen, und kleine Wesen, ähnlich den Blattschneiderameisen, schleppten Mykorrhiza-Pilze, Blattläuse, Blattsegmente und Halmspitzen die Stängel hinab in ihren Bau. Ein Wasserfall rauschte und bildete den akustischen Hintergrund für die Laute der Urwald-Tiere, die das Tal erfüllten.
„Hier ist das Wasser wunderbar!“, schwärmte Fisca und schwamm zu einem kleinen Wasserfall, der sich in den Tümpel ergoss.
Tüngör schwamm zu ihr rüber. Sie spielten im Wasser, spritzten es einander zu. Es schimmerte blaugrün, enthielt Mikroben, den Blaualgen ähnlich, Muscheln und Korallen, die mit puntirjanischen Zooxanthellen in einer Art Symbiose lebten (so wie auf der Erde anaerobe Darmbakterien in Symbiose lebten mit ihren luftfreien, lebenden Behältern, die man als Säugetiere und Menschen bezeichnete).
Ein Schwarm Putzervögel streifte durch das Tal – auf der Suche nach neuen Großlurchen.
Fisca tauchte auf, freudig erregt.
„Schau, eine Krakenqualle!“, rief sie und winkte Tüngör herbei.
„Sonnentau und Bärenklau!“, rief Tüngör freudig, holte tief Luft und tauchte in den Tümpel. Da sah er sie – eine apfelgroße, hellblau schimmernde Krakenqualle, ein selten großes Exemplar. Einige kleine Quallen folgten ihr, wohl der Nachwuchs, und dann kamen weitere, im Wasser wallende Wolken dort scheinbar qualmender Quallentierchen. Sie quirlten, leise quiekend, aus einer Quelle warmen Wassers, strömten quer zu einer quarkähnlich aussehenden Quarzwand, knapp unter der Wasseroberfläche.
Später ruhten sich Tüngör und Fisca kurz auf einem der Felsen aus Amblygonit-Erz aus, die aus dem Tümpel ragten. Trotz allen Genusses – sie blieben wachsam, denn auch im puntirjanischen Dschungel drohten Gefahren. Schwärme von Libellenmücken, Riesenzecken und Blauwespenschwärme zogen gelegentlich durch die Sümpfe. Und sie hatten keine Lust, einem von ihnen zu begegnen.
Fisca und Tüngör genossen ihren Badeausflug bis in den späten Morgen. Mittags zog Gugay mit Tüngör los, ein paar Flugechsen zum Abendessen jagen. Nachmittags waren sie dann müde, aber mit guter Beute zu Fisca heimgekehrt. Sie hatte am Platz für den späteren Nestbau eine Platte mit Früchten vorbereitet, und ein Büffet mit köstlichen, pflanzlichen Speisen, die der Urwald zu bieten hatte. Feierlich und unter Absingen ihrer Balzgesänge legten sie die ersten Zweige für ihr Nest. Tüngör zeigte sein ganzes, grellbuntes Balzgefieder, vollführte mit Fisca den Rundflug zur Bekundung der Paarungsbereitschaft und nahm mit Fisca und Gugay das traditionelle Nistplatz-Einweihungsmahl zu sich.
Tüngör und Fisca ließen es sich noch lange schmecken. Gugay hingegen war sofort nach dem Essen aufgesprungen und für den Abend zu Malalo geflogen. Er wollte mit ihm seinen nächsten Coup aushandeln, einen Coup, der ihn bald in eine äußerst brisante, ja, gefährliche Geschichte verwickeln sollte. Diese Geschichte jedoch veränderte sein Leben, und sie führte ihn und seine Familie weit über die Welt von Puntirjan hinaus.
Anmerkungen: