Klausurenkurs im Strafprozessrecht. Marco Mansdörfer
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Klausurenkurs im Strafprozessrecht - Marco Mansdörfer страница 11
I. Strafbarkeit aus § 339 StGB
33
S könnte sich wegen Rechtsbeugung gemäß § 339 StGB strafbar gemacht haben, indem er bei der Beurteilung der Anklagereife nicht der herrschenden Rechtsprechung folgte und, anstatt die Sache anzuklagen, eine Einstellung mangels Tatverdachts verfügte.
1. Tatbestand
34
S müsste tatbestandlich gehandelt haben und mithin zunächst den objektiven Tatbestand der Rechtsbeugung verwirklicht haben.
a) Objektiver Tatbestand
aa) Tauglicher Täter
35
S müsste tauglicher Täter der Rechtsbeugung gewesen sein. In Betracht kommen Richter, andere Amtsträger oder Schiedsrichter. Der Staatsanwalt ist Amtsträger i.S.v. § 11 Abs. 1 Nr. 2 lit. a StGB. Mithin ist S tauglicher Täter.
bb) Tatsituation: bei Leitung oder Entscheidung einer Rechtssache
36
S müsste in seiner amtlichen Eigenschaft damit betraut gewesen sein, eine Rechtssache zu entscheiden oder zu leiten. Eine Rechtssache ist jede Angelegenheit mit Rechtsbezug, bei der mehrere Beteiligte mit – jedenfalls möglicherweise – widerstreitenden rechtlichen Interessen einander gegenüberstehen und über die in einem rechtlich vollständig geregelten Verfahren nach Rechtsgrundsätzen zu verfahren und zu entscheiden ist.[1] Für eine Leitung oder Entscheidung der Rechtssache kommt es auf die Stellung des Amtsträgers im konkreten Verfahren an. Sie erfordert eine beherrschende Stellung des Täters in dem jeweiligen Verfahren, dessen Neutralität sowie einen gewissen Grad sachlicher Unabhängigkeit in seiner Person.[2] Die entfaltete Tätigkeit darf nicht als bloßer Rechtsvollzug erscheinen.[3] Die Betrauung des Staatsanwalts mit einer Rechtssache und mithin dessen rechtliche Erfassung durch den Tatbestand der Rechtsbeugung sind umstritten.
37
(1) | E.A. nach kann einem Staatsanwalt bereits keine Leitungs- oder Entscheidungsfunktion in einer Rechtssache zukommen. Er erscheine vielmehr als Ankläger und als Anwalt des Staates. Er ist daher selbst Partei des Strafverfahrens.[4] Insbesondere eine bei der Entscheidung unabhängige Position, die der des Richters nach Art. 97 GG gleichkomme, scheide schon wegen der Weisungsgebundenheit gemäß § 146 GVG aus. |
38
(2) | Nach der h.M. und Rspr. kommt auch ein Staatsanwalt grundsätzlich als Täter der Rechtsbeugung im Rahmen des strafprozessualen Ermittlungsverfahrens bei allen verfahrensabschließenden Entscheidungen Betracht, wie etwa bei der Einstellung nach § 170 Abs. 2 StPO.[5] Der einzelne Staatsanwalt habe hierbei die Entscheidungskompetenz über eine Rechtssache inne, da die Staatsanwaltschaft in diesem strafprozessualen Stadium als „Herrin des Ermittlungsverfahrens“ über weitreichende Entscheidungskompetenzen hinsichtlich des weiteren Verfahrensfortgangs verfüge. |
39
(3) | Stellungnahme: Der h.M. ist zuzustimmen. Das staatsanwaltschaftlich geführte Ermittlungsverfahren kommt in jedem Fall als Rechtssache in Betracht, da es als Teil des Strafverfahrens auf die rechtsstaatliche Durchsetzung des öffentlichen Strafanspruchs gerichtet ist. Vor allem den verfahrensabschließenden Entscheidungen kommt die Qualität der Entscheidung über eine Rechtssache zu (vgl. die §§ 153, 153a, 170 StPO).[6] Der Staatsanwalt ist bei der Leitung des Ermittlungsverfahrens und seinen Entscheidungen zur Neutralität verpflichtet (vgl. etwa § 160 Abs. 2 StPO).[7] Zwar ist er aufgrund seiner Einbindung in die behördliche Hierarchie nicht so unabhängig wie ein Richter, jedoch viel freier als ein anderer Amtsträger, der zur Entscheidung von Rechtssachen berufen ist, sodass seine Stellung zumindest mit der eines Richters vergleichbar ist.[8] Das Abstellen auf eine Stellung, die mit der des Richters nach Art. 97 GG nahezu identisch erscheinen muss, schränkt den Anwendungsbereich der Rechtsbeugung entgegen ihrem Wortlaut (Amtsträger) und dem Schutzzweck der Norm zu stark ein. Die Rechtsbeugung soll dem Schutz der innerstaatlichen Rechtspflege vor Angriffen „von innen“ dienen.[9] Derartige Angriffe können ohne Weiteres auch durch den Staatsanwalt innerhalb des Ermittlungsverfahrens erfolgen. Dass der Staatsanwalt bei seiner Entscheidung über die Anklageerhebung laut h.M. an die Rechtsansichten der höchstrichterlichen Rechtsprechung gebunden sein soll, steht dem nicht entgegen (zu diesem Streit sogleich unten). Die Wirkung der Einstellungsverfügung für das Strafverfahren ist mit der des gerichtlichen Nichteröffnungsbeschlusses im Zwischenverfahren vergleichbar; ebenso ist der Beurteilungsmaßstab bei beiden Entscheidungen ungeachtet des Entscheidungsträgers nahezu identisch.[10] Eine durch die Bindung an Präjudizien eingegrenzte Kompetenz in der Rechtsanwendung bei im Übrigen uneingeschränktem Entschließungsspielraum lässt den erforderlichen Grad an sachlicher Unabhängigkeit bei der Entscheidungsfindung nicht entfallen, zumal der Regelung des § 339 StGB kein Erfordernis entnommen werden kann, dass ein Täter in seiner amtlichen Funktion zwingend der judikativen Gewalt angehören muss. |
Somit war S bei seiner Entscheidung über die Einstellung des Verfahrens mit der Entscheidung einer Rechtssache betraut.
cc) Tathandlung: Rechtsbeugung
40
Innerhalb der Entscheidung der Rechtssache müsste S das Recht gebeugt haben. Als Recht kommen insbesondere alle Vorschriften des positiven Rechts in Betracht.[11] Bei seiner Entscheidung hat S vor allem das materielle (§ 265a StGB) und das formelle Strafrecht (vor allem § 170 StPO) angewendet. Fraglich ist, ob die hierin erfolgte Rechtsanwendung eine Rechtsbeugung darstellt. Das allgemeine Verständnis der Tathandlung der Rechtsbeugung ist unklar und umstritten.
(1) Ältere subjektive Theorie
41
Nach der früher vertretenen subjektiven Theorie sollte es darauf ankommen, dass der Täter bei der Rechtsanwendung gegen seine persönliche Überzeugung gehandelt haben muss.[12] Da S gerade nicht im Widerspruch zu seiner persönlichen Überzeugung, sondern nur zur herrschenden Meinung gehandelt hat, liegt nach dieser Ansicht im Erlass des Einstellungsbeschlusses keine taugliche Rechtsbeugungshandlung.
(2) Pflichtwidrigkeitslehre
42
Nach der Pflichtwidrigkeitslehre muss der Täter bei der Rechtsanwendung die ihn treffenden spezifischen Pflichten bei der Wahrheits- und Rechtsfindung verletzt haben. Bei objektiv nicht mehr vertretbaren Entscheidungen, also objektiv klaren Rechtsverstößen sei hiervon stets auszugehen; bei objektiv vertretbaren Entscheidungen komme es auf zugrundliegende sachfremde Erwägungen an.[13] Die materiell-rechtliche Fragestellung, ob bloßes Schwarzfahren den Tatbestand