Arztstrafrecht in der Praxis. Klaus Ulsenheimer
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![Arztstrafrecht in der Praxis - Klaus Ulsenheimer Arztstrafrecht in der Praxis - Klaus Ulsenheimer Praxis der Strafverteidigung](/cover_pre1171415.jpg)
In Übereinstimmung mit den Gutachtern stellte der Senat fest, „dass bei der Behandlung der Patientin durch den Anästhesisten mit hinreichender Wahrscheinlichkeit zahlreiche Fehler unterlaufen sind“, deren Ursächlichkeit allerdings zweifelhaft war. Dennoch wurde Anklage erhoben, diese aber letztlich nicht zugelassen.
Mit Recht verneinte das OLG Zweibrücken gegenüber dem Gynäkologen den hinreichenden Tatverdacht. Denn ihm könne „unter Berücksichtigung der organisatorischen Trennung der Gynäkologischen und der Anästhesie-Abteilung nicht zum Vorwurf gemacht werden“, dass er „sowohl mit der Zangengeburt als auch mit der Sectio begonnen habe, ohne auf die Hinzuziehung eines anderen Anästhesisten oder wenigstens der Anästhesieschwester zu bestehen“, sondern die Herstellung der Vitalfunktionen dem dafür zuständigen Anästhesisten überlassen hat, den er weder namentlich noch persönlich kannte. Nach dem Grundsatz der strikten Arbeitsteilung betrafen diese Maßnahmen nämlich den anästhesiologischen Fachbereich, und es lagen keine besonderen Umstände vor, die dem Gynäkologen den Schluss hätten nahelegen müssen, dass das Vorgehen des Anästhesisten offensichtlich unrichtig und daher Zweifel an seiner fachlichen Qualifikation geboten waren.
Abgesehen davon ging es für den Gynäkologen in dem Zeitraum, in dem sich der Narkosezwischenfall ereignete, entscheidend darum, das Kind zu entwickeln und dessen Leben zu retten.
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Es lassen sich je nachdem, wer bei der Kooperation im Rahmen der Krankenbehandlung zusammenwirkt, praktisch insbesondere sechs typische Fallkonstellationen bilden:
1. | die interdisziplinäre ärztliche Zusammenarbeit zwischen Fachärzten verschiedener Gebiete als solche; |
2. | die Zusammenarbeit zwischen dem Facharzt für Allgemeinmedizin (Hausarzt) und anderen Fachärzten; |
3. | die Zusammenarbeit zwischen niedergelassenem Arzt und Krankenhausarzt; |
4. | das Zusammenwirken von laufend behandelndem Arzt und Konsiliarius; |
5. | die Teamarbeit im Krankenhaus zwischen Chefarzt und nachgeordneten Ärzten innerhalb einer Abteilung; |
6. | die Zusammenarbeit zwischen Arzt und Pflegepersonal. |
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Die Fallgruppen 1. bis 4. bilden den Bereich der horizontalen Arbeitsteilung, die durch das Prinzip partnerschaftlicher Gleichordnung und damit grundsätzlicher Weisungsfreiheit geprägt ist, während die Fallgruppen 5. und 6. das Gebiet der vertikalen Arbeitsteilung abdecken, die eine hierarchische Struktur aufweist, das heißt, für die Unterordnung und Weisungsgebundenheit der Mitarbeiter gegenüber einer fachlich überlegenen und/oder arbeitsrechtlich vorgesetzten Person typisch ist. Dies impliziert systematisch auch die Problematik der Delegation von Aufgaben.
b) Der Vertrauensgrundsatz als tragendes Leitprinzip zur Abgrenzung der Verantwortlichkeit und Begrenzung der jeweiligen Sorgfaltspflichten
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Aus dem Prinzip der strikten – horizontalen und vertikalen – Arbeitsteilung folgt zugleich – als Kehrseite des Grundsatzes der Eigenverantwortlichkeit –, dass jeder bei der Krankenbehandlung Mitwirkende sich darauf verlassen darf, dass der oder die anderen den ihm bzw. ihnen obliegenden Aufgabenanteil mit den dazu erforderlichen Kenntnissen und der gebotenen Sorgfalt erfüllen. Jeder an der Behandlung des Patienten, gleich in welcher Funktion, Beteiligte darf darauf vertrauen, dass der mitbeteiligte andere seine Aufgabe beherrscht und seine Verantwortung wahrnimmt. „Das Vertrauen darauf, dass der andere seine Pflicht tun werde, ist so lange nicht pflichtwidrig, als weder die für den Vertrauenden maßgebende Erfahrung noch seine besonderen Wissensmöglichkeiten ihm das Vertrauen zu erschüttern brauchen“[70]. Mit den Worten des BGH:
„Jeder Arzt hat denjenigen Gefahren zu begegnen, die in seinem Aufgabengebiet entstehen. Solange keine offensichtlichen Qualifikationsmängel oder Fehlleistungen erkennbar werden, muss er sich aber darauf verlassen dürfen, dass auch der Kollege des anderen Fachgebiets seine Aufgaben mit der gebotenen Sorgfalt erfüllt. Eine gegenseitige Überwachungspflicht besteht insoweit nicht“. [71]
Dies ist der Inhalt des Vertrauensgrundsatzes, des zweiten tragenden Leitprinzips zur Abgrenzung der Verantwortlichkeit und damit zur sachgerechten Begrenzung der jeweiligen Sorgfaltspflichten[72].
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Nur ausnahmsweise dann, wenn der Partner in der konkreten Situation erkennbar seinen Aufgaben nicht gewachsen ist, sich z.B. infolge Trunkenheit, Krankheit, Überforderung oder Erschöpfung in einer Verfassung befindet, die ihm nicht mehr gestattet, seine Aufgaben ordnungsgemäß zu erfüllen, oder wenn aufgrund bestimmter Anhaltspunkte „ernsthafte Zweifel an der Ordnungsgemäßheit der Vorarbeiten des Kollegen erkennbar“ sind, ist der Vertrauensgrundsatz aufgehoben[73]. An die Stelle der grundsätzlichen Eigenverantwortung jedes Beteiligten für seinen Teilbereich tritt dann für den an sich nicht zuständigen Arzt in solchen Ausnahmesituationen die Gesamtverantwortung für das Ganze der zum Wohle des Patienten entfalteten, in verschiedener Hand liegenden ärztlichen Tätigkeit. Denn in derartigen extremen Ausnahmefällen bleibt natürlich jeder Arzt – unabhängig von seiner jeweiligen Fachkompetenz und Aufgabenstellung – aufgrund seiner Verantwortung dem Patienten gegenüber verpflichtet, den diesem aus einer offenkundigen bzw. erkennbaren Fehlleistung seines Kollegen oder des Pflegepersonals drohenden Schaden abzuwenden. Hier endet das berechtigte Vertrauen, und die (eigene) strafrechtliche Pflichtverletzung beginnt. Dabei sind die Anforderungen an die Geltung des Vertrauensschutzes umso höher, je größer das Risiko eines Behandlungsfehlers und die daraus resultierende Gefährdung des Patienten ist.[74]
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Der Vertrauensgrundsatz bedarf ferner dort einer Einschränkung, wo „das besondere Risiko der Heilmaßnahme gerade aus dem Zusammenwirken zweier verschiedener Fachrichtungen und einer Unverträglichkeit der von ihnen verwendeten Methoden oder Instrumente“ folgt. Insoweit gilt bei arbeitsteiliger Krankenbehandlung ein weiteres Grundprinzip: die Koordinierungspflicht.
Beispiel:
Bei einer sog. Schieloperation führte der Anästhesist lege artis eine Ketanest-Narkose durch, bei der der Patient reinen Sauerstoff in hoher Konzentration erhält, während der Augenarzt zur Blutstillung einen Thermokauter einsetzte, mit dem verletzte Gefäße durch Erhitzung verschlossen werden. Beim Kautern kam es zu einer heftigen Flammenentwicklung, durch die das Kind schwere Verbrennungen im Gesicht erlitt.
Der BGH betonte in seiner Entscheidung, der Anästhesist habe den Erfordernissen des operativen Vorgehens Rechnung zu tragen und müsse seinerseits über die Wahl des anästhesiologischen Verfahrens im Benehmen mit dem Operateur entscheiden. Da „das Wohl des Patienten oberstes Gebot und Richtschnur sei“, müsse für die Zusammenarbeit zwischen den beteiligten Ärzten der Grundsatz gelten, dass diese „den spezifischen Gefahren der Arbeitsteilung entgegenwirken müssen und es deshalb bei Beteiligung