Arztstrafrecht in der Praxis. Klaus Ulsenheimer
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Arztstrafrecht in der Praxis - Klaus Ulsenheimer страница 91
![Arztstrafrecht in der Praxis - Klaus Ulsenheimer Arztstrafrecht in der Praxis - Klaus Ulsenheimer Praxis der Strafverteidigung](/cover_pre1171415.jpg)
Allerdings stellt einen (zivilrechtlich: groben) Behandlungsfehler von Anästhesist und Chirurg dar, wenn beide zutreffend erkennen, dass bei einem Patienten mit Blutgerinnungsstörung zur Vermeidung eines Blutungsgeschehens bei operativer Behandlung unter Durchführung einer Spinalanästhesie die – operative und anästhesiologische – Indikation zur Gabe eines die Blutungszeit verkürzenden Präparats besteht, jedoch versäumen, koordiniert sicherzustellen, dass dieses Präparat präoperativ verabreicht wird.[77]
223
Die vorgenannten Grundsätze der horizontalen Arbeitsteilung finden „nur bei der gleichzeitigen Behandlung durch Ärzte unterschiedlicher Fachrichtungen oder gleicher Fachrichtung mit besonderen Spezialkenntnissen“ Anwendung,[78] nicht aber bei bloß „zeitlicher Nachfolge von Ärzten des gleichen Fachs“. In diesen Fällen „hat der nachfolgende Arzt Diagnose- und Therapiewahl seines ‚Vorgängers‘ eigenverantwortlich zu überprüfen“.[79] Wenn sich also ein Radiologe die von einem anderen Radiologen zuvor gefertigten Röntgenaufnahmen nicht genau ansieht, sondern dessen Diagnose ungeprüft übernimmt, obwohl er eine Bruchlinie auf den Röntgenbildern und damit eine Stauung der Wirbelsäule hätte erkennen können,[80] trifft ihn der Vorwurf eines Behandlungsfehlers.
c) Arbeitsteilung und Vertrauensgrundsatz in typischen Fallkonstellationen
224
Wie sich die strikte Arbeitsteilung und der Vertrauensgrundsatz im Einzelnen bei den verschiedenen, oben herausgestellten Fallgestaltungen auswirken, welchen Umfang und welche Grenzen diese Prinzipien in concreto haben, sei nachfolgend anhand einiger praktischer Fälle veranschaulicht:
aa) Arbeitsteilung und Vertrauensgrundsatz im Bereich horizontaler Arbeitsteilung
(1) Fallgruppe 1a: Interdisziplinäre ärztliche Zusammenarbeit im stationären Bereich
225
Der BGH hat in zwei grundlegenden Entscheidungen[81] die Abgrenzung der Verantwortlichkeiten bei der Kooperation von Fachärzten verschiedener Fachgebiete am Beispiel der Zusammenarbeit zwischen Chirurgen und Anästhesisten behandelt. Die von der Rechtsprechung zu diesem Problemkreis aufgestellten Prinzipien sind jedoch grundsätzlicher Natur, so dass die maßgeblichen Entscheidungssätze vice versa auch im Verhältnis anderer Fachärzte zueinander Gültigkeit haben.
226
(a) Das erste Grundsatzurteil betraf eine Anästhesistin, die zu einer 18-jährigen Patientin gerufen wurde, als diese bereits auf dem Operationstisch lag. Da der Operateur aufgrund seiner Voruntersuchung eine „normale, akute Blinddarmentzündung“ diagnostiziert hatte, fragte die Anästhesistin die Patientin lediglich, ob sie nüchtern sei, was diese bejahte, unterließ es aber, ihren Bauch abzutasten oder nach Darmgeräuschen abzuhören. Da die Patientin jedoch zusätzlich an einer Darmlähmung erkrankt war, befanden sich im Magen und Darm mehrere Liter unverdauter Speisereste, die sie bei Einleitung der Narkose vor Einführung des Tubus erbrach. Dadurch kam es zu einer Aspirationspneumonie, an deren Folgen die Patientin zwei Tage später starb.
Der BGH bestätigte in dieser Entscheidung, dass zur Verantwortungsabgrenzung „bei der ärztlichen Zusammenarbeit im Operationssaal der Vertrauensgrundsatz zur Anwendung“ kommen müsse. Dieser besagt, „dass im Interesse eines geordneten Ablaufs der Operation sich die dabei beteiligten Fachärzte grundsätzlich auf die fehlerfreie Mitwirkung des Kollegen aus der anderen Fachrichtung verlassen können“. Denn die zunehmende Spezialisierung in der Medizin habe zu einer Vielzahl eigenständiger Fachgebiete geführt und mit dem Übergang fachlicher Zuständigkeit auch die rechtliche Eigenverantwortlichkeit des jeweiligen Spezialisten begründet. „Wenn Operateur und Anästhesist ihre Kräfte zu Gunsten einer wechselseitigen Überwachung zersplitterten, würde jede Form der Zusammenarbeit im Operationssaal fragwürdig und mit zusätzlichen Risiken für den Patienten verbunden.“[82]
227
Im Verhältnis zwischen Chirurg und Anästhesist bedeutet dies konkret: Die präoperative Versorgung des Patienten obliegt dem Anästhesisten. Er hat die „Narkosefähigkeit“, d.h. die operative Belastbarkeit des Patienten durch den beabsichtigten Eingriff und die Narkose zu prüfen. Er bestimmt das Narkoseverfahren und trifft danach seine Vorbereitungen, „zu denen es auch gehört, sich von der Nüchternheit des Patienten zu überzeugen“, um die „nahe liegende Gefahr einer Aspiration zu vermeiden“. Der Chirurg dagegen entscheidet darüber, „ob, wo und wann der Eingriff durchgeführt werden soll“. Dabei wägt er nicht nur das Operationsrisiko ab, sondern kalkuliert zumindest auch das allgemeine Narkoserisiko mit ein.
Daraus folgt: Die Anästhesistin war im vorliegenden Falle weder berechtigt noch verpflichtet, das Untersuchungsergebnis des Chirurgen zu überprüfen, sondern durfte sich auf dessen Anamnese und Diagnose („akuter Blinddarm“) verlassen. Denn jeder der beiden Ärzte darf grundsätzlich darauf vertrauen, dass der andere seine Tätigkeit sachgemäß ausübt und mit der jeweils anderen richtig koordiniert. „Etwas anderes könnte nur dann gelten, wenn besondere Umstände den Schluss hätten nahe legen müssen, dass die chirurgische Diagnose nicht richtig“[83] oder die beabsichtigte Narkose offensichtlich unzulänglich war. Mangels solcher Anhaltspunkte hatte das Landgericht die angeklagte Narkoseärztin mit Recht freigesprochen.
228
Ein anderes Beispiel für die unterschiedliche Aufgabenstellung von Anästhesist und Operateur und die daraus sich ergebende Folgerung, dass keine gegenseitigen Kontrollpflichten bestehen, bietet der vom LG Kassel entschiedene Fall einer Lungenoperation, bei der infolge der im Operationsplan falsch ausgewiesenen Seitenlokalisation statt des rechten, an einem Bronchialkarzinom erkrankten Ober- und Mittellappens der Lunge, die linke, nicht vom Tumorleiden betroffene Lungenseite, operiert worden war. Die Frage, ob die Anästhesisten die falsche Seitenangabe bei Wahrung der zu fordernden fachlichen Sorgfalt hätten erkennen müssen, wurde vom fachanästhesiologischen Gutachter eindeutig – und mit Recht – verneint. Denn die Aufgabe des Anästhesisten besteht zum einen darin, den Patienten in einen Zustand zu bringen, der die Durchführung des geplanten operativen Eingriffs erlaubt, und zum anderen in der adäquaten Überwachung und gegebenenfalls Sicherung der Vitalfunktionen. Es ist aber „keinesfalls zwingende Aufgabe des Anästhesisten, die Richtigkeit der operativen Planung einschließlich der Angabe der Seitenlokalisation eines operativen Eingriffs im OP-Plan vor oder während des Eingriffs und der Anästhesie zu überprüfen“, so dass das Nichterkennen der Seitenverwechslung durch den Anästhesisten für diesen keinen Sorgfaltspflichtverstoß begründet.[84]
229
Umgekehrt folgt daraus aber zugleich, dass „die strafrechtliche Eigenverantwortung“ des Anästhesisten „für eine lege artis durchzuführende Narkose, wozu die entsprechende medizinisch mögliche Vorbereitung des Patienten gehört, durch die Verantwortung des Chirurgen für eine zutreffende Diagnose und seine Entscheidung über die Notwendigkeit eines operativen Eingriffs nicht unmittelbar berührt wird. Eine Ausnahme könnte nur gelten, wenn nach dem Urteil des Chirurgen eine unverzügliche, keinerlei Aufschub mehr duldende Operation deshalb durchzuführen ist, weil anderenfalls mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit der Tod des Patienten eintreten würde“[85].
230
Aus der dargelegten Aufgabenabgrenzung zwischen Chirurgie