Arztstrafrecht in der Praxis. Klaus Ulsenheimer
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(j) Ebenfalls zum Problemkreis „horizontale Arbeitsteilung“ zwischen Ärzten verschiedener Fachrichtungen gehört die Frage, inwieweit eine Beiziehung von Unterlagen zur Vorbehandlung in einer anderen Klinik oder in einer anderen Abteilung desselben Krankenhauses erfolgen muss. Dazu heißt es in der Entscheidung des OLG Düsseldorf vom 30.4.1987[129]:
„Eine generelle Verpflichtung zur Beiziehung von Vorbehandlungsunterlagen besteht nicht. Dies würde in der Praxis auf eine Behinderung der laufenden Therapie hinauslaufen, vornehmlich dann, wenn Behandlungsunterlagen nicht oder nicht in kurzer Frist herbeigeschafft werden können. Ärztliche Aufzeichnungen über Erkrankungen und Maßnahmen der Therapie sind deshalb nur beizuziehen, wenn die Kenntnis der dort vermerkten Einzelheiten im Rahmen der Behandlung einer neuerlichen Erkrankung oder Gesundheitsschädigung medizinisch notwendig ist. Die Gründe für eine medizinisch unumgängliche Kenntnis und Auswertung der Behandlungsunterlagen können sicherlich vielfältig sein. Pflichtwidrig ist die Nichtbeiziehung indes nur dann, wenn der Arzt nach den ihm mitgeteilten oder erkennbaren Umständen davon ausgehen muss, eine einwandfreie Behandlung sei allenfalls bei Kenntnis und Auswertung der alten Befunde und Unterlagen gewährleistet.“
(2) Fallgruppe 1b: Interdisziplinäre ärztliche Zusammenarbeit im ambulanten Bereich
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Die vorstehend dargelegten Grundprinzipien horizontaler Arbeitsteilung: Teilbarkeit der Verantwortung, Vertrauensgrundsatz und Koordinationspflicht gelten in gleicher Weise für den Bereich ambulanter Eingriffsdurchführung, der angesichts der Entwicklung der minimal-invasiven Chirurgie und unter dem „Diktat leerer Kassen“ mit Hilfe gesetzlicher Förderung „ambulant vor stationär“ (§ 39 Abs. 1 S. 2 SGB V) eine ungeheure Ausweitung erfahren hat. Damit ging parallel ein erheblicher Anstieg der Arzthaftung bzw. -strafbarkeit im Zusammenhang mit ambulanten Eingriffen einher[130], für die dieselben rechtlichen Anforderungen und die gleichen medizinischen Qualitätsmaßstäbe angelegt werden wie an die stationäre Durchführung.[131]
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(a) Einige Beispiele aus der Rechtsprechung mögen dies verdeutlichen:
• | LG Essen:[132] Ein 5-jähriger Junge, der seit seiner Geburt an der Muskeldystrophie Duchenne litt, verstarb bei einer ambulanten Polypenoperation. Zur Erleichterung der Intubation injizierte der Anästhesist – das hier kontraindizierte – Succinylcholin, ein muskelerschlaffendes Medikament, nach dessen intravenöser Gabe es 10 Minuten später zu einem trotz Wiederbelebungsbemühungen tödlichen Herzstillstand kam. Die Staatsanwaltschaft erhob Anklage gegen die beiden an der Operation beteiligten HNO-Ärzte sowie den Anästhesisten, der als einziger rechtskräftig – und mit Recht – verurteilt wurde.[133] Denn ihm allein obliegt als Anästhesist die abschließende Beurteilung der Narkosefähigkeit eines Patienten. Um dieser Aufgabe gerecht zu werden, hätte er sicherstellen müssen, dass auch anästhesierelevante Informationen tatsächlich erhoben werden und sicher an ihn herangelangen. Dies ist im vorliegenden Fall jedoch nicht geschehen. Ihm lag lediglich ein kleines Blutbild nebst Gerinnungsfaktor sowie das Krankenblatt und ein Überweisungsträger des Dr. Y vor. Diese Unterlagen waren nichtssagend. Aus ihnen ergaben sich weder narkoserelevante Fragen noch Antworten. Auch der von der Gemeinschaftspraxis Dr. Y herausgegebene Aufklärungsbogen, der mit „Liebe Eltern!“ überschrieben ist, enthält keinen für einen Anästhesisten wichtigen Fragenkomplex. Auch insoweit hätte sich der Angeklagte davon überzeugen müssen, dass für die Narkose bedeutsame Fragen, z.B. anhand eines ordentlichen Aufklärungsbogens, zu dem Patienten gestellt und auch dokumentiert werden. Im Hinblick auf die Narkosefähigkeit des Kindes hat die Praxis Dr. Y damit keinen Vertrauenstatbestand gesetzt, auf den der Angeklagte sich hätte verlassen dürfen. Vor diesem Hintergrund hätte er vor der Operation eine eigene Anamnese bei den Eltern erheben müssen, bei der das Vorliegen der Muskeldystrophie sofort zutage getreten wäre“ und er dadurch die Kontraindikation des Medikaments Succinylcholin erkannt hätte. „Bei Kenntnis der Muskelerkrankung hätte das Kind keinesfalls ambulant anästhesiert werden dürfen“. |
• | Ambulante Zirkumzision bei einem 5-jährigen Kind zur Beseitigung einer Phimose unter Allgemeinnarkose, die ein Anästhesist, der regelmäßig mit der Operateurin zusammenarbeitet, durchführte. Nach dem Eingriff kam es im Aufwachraum zu einem Atem- und Kreislaufstillstand und einer schweren Schädigung des Hirns, die auf einer Überdosis von Rapifen und Überwachungsversäumnissen in der Aufwachphase beruhten. Mit Recht lehnte das OLG Naumburg eine Haftung der Chirurgin ab, da sie „grundsätzlich weder für eine fehlerhafte Dosierung eines Hypnotikums noch für eine unzureichende postoperative Kontrolle der Kreislauf- und Atmungsstabilität“ haftet. Denn „beide Aufgaben fallen in den Verantwortungsbereich des Anästhesisten“.[134] |
• | Bei einer ambulant durchgeführten Operation wegen eines Postdissektomie-Syndroms wurde der Patient nicht auf dem Operationstisch fixiert und nur in einen Dämmerschlaf versetzt. Gegen Ende der Operation trat der Anästhesist vom Tisch ab, um im Nebenraum ein Medikament zur Blutdrucksenkung zu holen. Gleichzeitig trat der Operateur zur Seite, um den Bildwandler zu bedienen, und zeitgleich verließ auch die OP-Schwester den Patienten, um etwas zu holen. Genau in diesem Augenblick bäumte sich der noch unzurechnungsfähige Patient auf und fiel vom Tisch. Dabei zog er sich eine Schädelfraktur mit einem subduralen Hämatom und zusätzlich einen Hirninfarkt zu, in dessen Folge er ein Jahr später starb. Nach Einholung eines fachanästhesiologischen Gutachtens, das vor allem eine fehlende schriftliche Absprache zwischen Operateur und Anästhesist bezüglich der Überwachung des Patienten gerügt hatte, erwirkte die Staatsanwaltschaft gegen den Anästhesisten wegen fahrlässiger Tötung einen Strafbefehl, da er für eine lückenlose Beaufsichtigung des Patienten durch die beteiligten Personen bei der Operation hätte sorgen müssen. Als Anästhesist habe er „die übergeordnete Aufsichtspflicht über den anästhesierten Patienten“ gehabt und deshalb die Pflicht, die Kontrolle während seiner Abwesenheit sicherzustellen.[135]Die Verfahren gegen den Operateur und die OP-Schwester wurden nach § 153a StPO eingestellt. |
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Bei einer ambulant auf laparoskopischem Weg durchgeführten Fertilisationsdiagnose verletzte der Gynäkologe unbemerkt die Arteria epigastrica. Die Patientin kam 20 Minuten nach dem Eingriff aus eigener Kraft in den nicht überwachten Aufwachraum, wo die Anästhesistin ein Volumenersatzmittel routinemäßig infundierte. 35 Minuten später fand sie die Patientin blass und müde vor, so dass sie ihr nochmals eine Infusion gab, ohne allerdings Puls und Blutdruck zu messen. Weitere 20 Minuten später erbrach die Patientin, so dass der Ehemann die Anästhesistin rief. Diese stellte einen Blutdruck von nur noch 75/40 mmHg fest und injizierte Akrinor. Der Hb-Wert lag bei 6,5g/%. Die Patientin überlebte trotz eines Blutverlustes von 5l und nach Eintritt eines Herzstillstandes.
Beide Ärzte bestritten ihre Zuständigkeit für die postoperative Überwachung, doch sah die Staatsanwaltschaft die Pflichtwidrigkeit beider in der fehlenden diesbezüglichen Absprache, wer für den Aufwachraum und die dort liegende Patientin rechtlich verantwortlich sei. Gegen Zahlung eines fühlbaren Geldbetrages wurden die Ermittlungsverfahren gemäß § 153a StPO eingestellt.
Im Rahmen des Zivilprozesses führte der Senat aus, die Patientin, die eine Gefäßverletzung erlitten hatte, sei von den Nachwirkungen der Anästhesie nicht mehr beeinträchtigt gewesen. Die Überwachungspflicht habe sich „ausschließlich wegen des Risikos einer Nachblutung oder einer Verletzung sonstiger Organe“ ergeben, zwei Aspekte, die „grundsätzlich in den Verantwortungsbereich“ des Gynäkologen fielen. Dies sei in der Vereinbarung der beiden Fachgebiete über
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