Handbuch Arzthaftungsrecht. Alexander Raleigh Walter
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Der Patientenseite wird auch zugemutet, sich nach dem Eintritt schwerwiegender Komplikationen nach einer dahingehenden Aufklärungsbedürftigkeit zu erkundigen, soweit sich dadurch das Wissen auf einfache Weise komplettieren lässt.[65]
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Dennoch gilt auch für den Verjährungsbeginn bei Aufklärungsfehlern, dass keine Verpflichtung besteht, sich Kenntnisse über fachspezifisch medizinische Fragen zu verschaffen. Dies hat der BGH in seiner Entscheidung vom 10.10.2006[66] herausgearbeitet. Wegen einer Adoleszenz-Skoliose war die Klägerin im Alter von 16 Jahren an der Wirbelsäule operiert worden. Bei der Operation war es zu einer Einblutung in den Rückenmarkskanal gekommen, die zur Querschnittslähmung führte. Darüber hinaus entwickelte die Patientin neben anderen Beschwerden auch Verwachsungen im Brustraum, Falschgelenkbildungen und Rippeninstabilitäten. Über das Risiko einer Querschnittslähmung war sie aufgeklärt worden. Über die Risiken einer Falschgelenkbildung, Verwachsungen im Brustraum und Rippeninstabilitäten war sie dagegen nicht aufgeklärt worden.
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Es handelte sich bei diesen weiteren Folgen um typische Risiken des Eingriffs, deren Verwirklichung für sich genommen die weitere Lebensführung deutlich beeinträchtigt, und über die deshalb hätte aufgeklärt werden müssen.
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Der BGH hat in dieser Entscheidung der Patientin zugutegehalten, dass die Verjährung i.d.R. nicht schon beginnt, sobald die Patientin einen Schaden aufgrund der medizinischen Behandlung feststellt. Hinzutreten muss vielmehr auch die Kenntnis, dass der Schaden nicht auf einem Behandlungsfehler, sondern auf einer spezifischen Komplikation der medizinischen Behandlung beruht, über die die Patientin hätte aufgeklärt werden müssen. Eine Erkundigungspflicht treffe die Patientin nicht, soweit es um die fachspezifisch medizinische Frage gehe, inwieweit eine Aufklärung zu erfolgen hatte. Die Patientin sei nicht verpflichtet, sich im Hinblick auf einen Haftungsprozess medizinisches Fachwissen anzueignen.
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Im Streitfall hat der BGH Kenntnis daher erst mit Zugang eines Gutachtens angenommen, nach welchem es sich bei der Pseudoarthrose und den weiteren, nicht von der Aufklärung erfassten Folgen nicht um die Folgen eines Operationsfehlers oder schicksalhafte Zufälle handelte, sondern um Risiken, die dem Eingriff spezifisch anhafteten und über die deshalb hätte aufgeklärt werden müssen.
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Entsprechend hat das OLG Bamberg in einer Entscheidung vom 20.7.2015[67] eine Kenntnis vom Aufklärungsmangel erst dann angenommen, als die Patientin, die durch das Robodoc-Verfahren mit einer Hüft-TEP versorgt worden war und intraoperativ eine Nervverletzung erlitten hatte, davon wusste, dass die Wahl des Verfahrens zu einer Erhöhung einzelner Risiken im Vergleich zur herkömmlichen Methode führte. Darüber war sie nicht aufgeklärt worden.
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Aus den unterschiedlichen Voraussetzungen für den Verjährungsbeginn wird deutlich, dass Ansprüche aus Aufklärungsfehlern zu anderer Zeit verjähren können als solche aus Behandlungsfehlern, zuletzt bestätigt in der Entscheidung des BGH vom 8.11.2016[68]: „Zwischen den Ansprüchen wegen unzureichender ärztlicher Aufklärung einerseits und wegen fehlerhafter Behandlung andererseits besteht zwar eine Verknüpfung dergestalt, dass es Ziel des Schadensersatzbegehrens des Patienten ist, eine Entschädigung für die bei ihm aufgrund der Behandlung eingetretenen gesundheitlichen Nachteile zu erlangen, doch liegen den Haftungstatbeständen verschiedene voneinander abgrenzbare Pflichtverletzungen zugrunde (. . .). Dies kann auch zu unterschiedlichen Verjährungsfristen führen (. . .).“ Da im dortigen Fall von anspruchsbegründenden Aufklärungsfehlern schon in verjährungsrelevanter Zeit die Rede war, sah der BGH derartige Ansprüche anders als Ansprüche aus Behandlungsfehlern als verjährt an.
D. Grob fahrlässige Unkenntnis des geschädigten Patienten
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Einen Verjährungsbeginn ohne volle Kenntnis der anspruchsbegründenden Umstände hatte der BGH schon auf der Grundlage des § 852 Abs. 1 BGB für die Fälle entwickelt, in denen der Verletzte es in der Hand gehabt hätte, die Verjährungsfrist einseitig dadurch zu verlängern, dass er die Augen vor einer „gleichsam auf der Hand liegende Erkenntnismöglichkeit, deren Erlangung weder besondere Kosten noch nennenswerte Mühen verursacht“ hätte, verschließt.[69] Der Hauptanwendungsfall war und ist die Situation, in welcher der Geschädigte sich durch einfache Nachfrage Kenntnis von der Person des Schädigers hätte beschaffen können.[70] In diesen Fällen hatte der BGH stets betont, dass grob fahrlässige Unkenntnis nicht ausreiche und der rechtsmissbräuchlichen Nichtkenntnis nicht gleichzustellen sei.
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Vor diesem Hintergrund ist es verständlich, dass in den Kommentierungen der Begriff der grob fahrlässigen Unkenntnis i.S.d. § 199 Abs. 1 Nr. 2 BGB n.F. als etwas neues, über die rechtsmissbräuchliche Nichtkenntnis hinausgehendes gesehen wurde. Peters/Jacoby[71] sprechen sogar von einer „radikalen Änderung gegenüber § 852 Abs. 1 a.F.“. Sieht man sich ansonsten jedoch die Literatur zu den mit der Schuldrechtsmodernisierung eingeführten Neuerungen im Verjährungsrecht an, fällt fast durchgängig eine Diktion auf, die der auf den Rechtsgedanken des § 162 BGB gestützten Rechtsprechung zum missbräuchlichen Sich-Verschließen vor einer Erkenntnismöglichkeit entspricht.[72] Da im Behandlungsfehlerbereich zur Kenntnis der den Anspruch begründenden Tatsachen das Wissen gehört, dass sich in dem Misslingen der ärztlichen Tätigkeit das Behandlungs- und nicht das Krankheitsrisiko verwirklicht hat, und da dieses Wissen in der Regel nur durch Einsicht in die Behandlungsunterlagen und medizinische Beratung oder Begutachtung organisiert werden kann, ist der Aufwand für die Klärung der den Anspruch begründenden Umstände i.d.R. erheblich. Schon deshalb war nicht mit einem nennenswerten Anstieg kenntnislos verjährter Schadensersatzansprüche aus Behandlungsfehlern zu rechnen.[73]
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Der BGH hat in seiner Entscheidung vom 10.11.2009[74] diejenigen bestätigt, die für den Bereich der Arzthaftung keine weitreichenden Änderungen erwartet haben. Er hält fest, dass grob fahrlässige Unkenntnis nur vorliegt, wenn der Gläubiger ganz naheliegende Überlegungen nicht angestellt oder das nicht beachtet hat, was jedem hätte einleuchten müssen, dass aber für den Gläubiger keine generelle Obliegenheit besteht, im Interesse des Schädigers an einem möglichst frühzeitigen Beginn der Verjährungsfrist Initiative zur Klärung von Schadenshergang oder Person des Schädigers zu entfalten. Für den Gläubiger müssen konkrete Anhaltspunkte für das Bestehen eines Anspruchs ersichtlich sein und es muss sich ihm der Verdacht einer möglichen Schädigung aufdrängen. Der Patient kann nicht ohne Weiteres aus einer Verletzungshandlung, die zu einem Schaden geführt hat, auf einen schuldhaften Behandlungs- oder Aufklärungsfehler schließen und er muss ohne weitere sich aufdrängende Anhaltspunkte für ein behandlungsfehlerhaftes Geschehen auch nicht die Initiative zur Aufklärung des Behandlungsgeschehens entfalten.
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In dem am 10.11.2009 entschiedenen Fall hält der BGH dem Berufungsgericht vor, dass es nicht aufgezeigt habe, welche konkreten Umstände abgesehen vom negativen Ausgang der ärztlichen Behandlung der Klägerin Veranlassung hätten geben sollen, wegen eines Behandlungsfehlers nachzufragen, und dass weder festgestellt noch vorgetragen sei, dass eine etwaige Nachfrage der Klägerin Klarheit über die Ursache ihrer Beschwerden gebracht hätte, um ihr die Möglichkeit zu geben, aussichtsreich, wenn auch nicht risikolos Klage zu