Handbuch Arzthaftungsrecht. Alexander Raleigh Walter
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Man wird über das mit der Schuldrechtsmodernisierung eingeführte subjektive Tatbestandsmerkmal der grob fahrlässigen Unkenntnis den Begriff der nennenswerten Mühen und Aufwendungen nicht neu zu definieren haben. In seiner Entscheidung vom 17.4.2012[99] spricht der BGH auch nur davon, dass grob fahrlässige Unkenntnis in Betracht komme, „wenn ein Mitarbeiter der Regressabteilung aus ihm zugeleiteten Unterlagen . . . ohne weiteres hätte erkennen können, dass die Möglichkeit eines Regresses . . . in Betracht kommt“. Das wird im Behandlungsfehlerbereich eher die Ausnahme bleiben.
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Liegen allerdings Hinweise auf eine Regressmöglichkeit in der Regressabteilung vor, entfällt die subjektive Vorwerfbarkeit unzureichender Nachprüfungen nicht durch Hinweise auf hohe Arbeitsbelastung der Mitarbeiter in der Regressabteilung. Insoweit obliegt es den Sozialversicherungsträgern, eine Organisation zu schaffen, die es ermöglicht, Regressansprüche zu erkennen und diesen nachzugehen.[100]
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Darüber hinaus ist, wie bereits erwähnt, der Informationsfluss zur Regressabteilung bei Hinwiesen auf Regressmöglichkeiten so zu organisieren, dass sie frühzeitig von entsprechenden Umständen Kenntnis erhält. Die Kritik von Püster[101] in seiner Anmerkung zur Entscheidung des BGH vom 28.2.2012, den Regressgläubiger treffe danach „keine Pflicht zur ordnungsgemäßen Organisation“, geht ins Leere. Nur der individuelle Verstoß eines Mitarbeiters in der Leistungsabteilung gegen Anweisungen zur Informationsweitergabe an die Regressabteilung bleibt verjährungsrechtlich für den SVT ohne Folgen. Wird allerdings für die Regressabteilung erkennbar, dass Organisationsanweisungen zur Informationsweitergabe nicht beachtet werden, sind entsprechende Maßnahmen zu ergreifen.
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Aber auch hier muss gelten, dass ein Informationsfluss nur für die Fälle organisiert werden muss, in denen sich Hinweise auf eine Regressmöglichkeit auch tatsächlich ergeben. Der Eintritt von Komplikationen oder ein aufwendiger Behandlungsverlauf bzw. eine schwere Schädigung reichen nicht aus, weder für Mitarbeiter der Leistungsabteilung noch für Mitarbeiter der Regressabteilung. Soweit einzelne (keineswegs alle) Krankenkassen aus nachvollziehbarem Interesse an der Identifizierung von Regressmöglichkeiten bei bestimmten Krankheitsbildern oder Diagnosen stichprobenartig Nachfrage halten, ob der Erkrankung ein haftungsrechtlich relevantes Ereignis zugrunde liegt, handelt es sich um Initiativen, die verjährungsrechtlich zur Vermeidung grob fahrlässiger Unkenntnis nicht geschuldet sind.[102] Püster spricht dieses Phänomen an und meint daraus eine „Realität des Regresswesens“ ableiten zu können, nach welcher die Anforderungen des BGH in der Entscheidung vom 28.2.2012 überholt seien.[103] Er verkennt, dass auch über Initiativen zur aktiven Aufklärung möglicher Ersatzansprüche aus Behandlungsfehlern nur Zufallstreffer generiert werden und nur ein Bruchteil der Leistungsfälle überhaupt einer Prüfung zugeführt werden kann. Eine Forderung, zur Vermeidung des Vorwurfs grob fahrlässiger Unkenntnis sämtliche aufwendigen Leistungsfälle zu „scannen“, würde das Gesundheitswesen lahmlegen und sicher nicht geeignet sein, Haftpflichtprämien erschwinglich zu halten. Die auf der Linie von Püster liegende Forderung von J. Prütting, in der EDV der Leistungsabteilung „red flags“ für Meldungen an die Regressabteilung zu setzen,[104] lässt sich für den Behandlungsfehlerbereich allenfalls für offenkundige Fehler wie z.B. vergessene Bauchtücher oder Medikamentenüberdosierung, soweit sie kodiert erscheinen oder anders mitgeteilt werden, umsetzen. Aus z.B. einer Peritonitis mit nachfolgendem sechsstelligem Behandlungsaufwand lässt sich bei einem für Schicksal zuständigen SVT jedoch nichts ableiten. Zudem wäre die Aufklärung, ob hier ein haftungsrelevanter Fehler zur Erkrankung geführt hat, auch nicht „ohne nennenswerte Mühen und Aufwendungen“ zu erhalten.[105]
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Damit muss es im Regelfall bei dem vom BGH anhand eines schweren Geburtsschadensfall entwickelten Grundsatz bleiben, dass nicht nur der Geschädigte, sondern auch ein SVT nicht gehalten ist, im Interesse des Schuldners an einem frühen Verjährungsbeginn Nachforschungen zu betreiben.[106]
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Will der SVT eine Regressmöglichkeit prüfen und scheitert dies daran, dass der Krankenhausträger trotz mehrfacher Mahnung (grundlos) keine Einsicht in die Behandlungsunterlagen gewährt, kann dem SVT keine grob fahrlässige Unkenntnis angelastet werden, wenn er von der Möglichkeit der klageweisen Geltendmachung des Einsichtsanspruchs keinen Gebrauch macht.[107]
IV. Keine Kenntnis oder grob fahrlässige Unkenntnis durch einen Behandlungsfehler verneinendes MDK-Gutachten
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Da es nicht auf die grob fahrlässige Unkenntnis anderer Abteilungen oder externer Stellen, sondern auf die grob fahrlässige Unkenntnis des zuständigen Bediensteten der Regressabteilung ankommt, kann grob fahrlässige Unkenntnis nicht dadurch begründet werden, dass ein Gutachter des MDK ein fehlerhaft einen Behandlungsfehler verneinendes Gutachten erstellt.
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Der MDK-Gutachter ist nicht Kenntnisvertreter der Krankenkasse. Im System der gesetzlichen Krankenversicherung wird der MDK im Rahmen seiner Begutachtungstätigkeit nicht als Organ, Vertreter oder Erfüllungsgehilfe der Krankenkasse, sondern in einem eigenen Pflichtenkreis tätig.[108] Daran ändert nichts, dass der MDK eine von den Krankenkassenverbänden im jeweiligen Bundesland gemeinsam getragene Arbeitsgemeinschaft ist, die als rechtsfähige Körperschaft des öffentlichen Rechts oder als Verein verfasst ist. Der MDK ist organisatorisch und rechtlich nicht mit den Krankenkassen verbunden. Es besteht kein allgemeines Aufsichtsrecht der Krankenkassen gegenüber dem MDK oder dessen Mitarbeitern. Der MDK unterliegt auch keinem Weisungsrecht der Krankenkasse im Einzelfall und ist daher auch nicht Erfüllungsgehilfe der Krankenkasse. Vielmehr untersteht der MDK der Aufsicht der für die Sozialversicherung zuständigen obersten Verwaltungsbehörde des Landes. Die Ärzte des MDK sind bei der Wahrnehmung ihrer medizinischen Aufgaben nur ihrem ärztlichen Gewissen unterworfen.
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Entsprechend hat das OLG Frankfurt ein negatives geburtshilfliches MDK-Gutachten aus dem Jahr 2002 nicht ausreichen lassen, den Klägerinnen, Krankenkasse und Pflegekasse eines im Februar 2000 geborenen, schwerstgeschädigten Kindes, Kenntnis oder grob fahrlässige Unkenntnis zu unterstellen.[109] Die Krankenkasse hatte im Jahr 2001 die Behandlungsunterlagen der Geburtsklinik und der Neonatologie angefordert und die Vorgehensweise durch den MDK begutachten lassen. Der Gutachter des MDK übersah (ähnlich wie ein später von der Familie der Versicherten eingeschalteter Privatgutachter) den Hinweis in einem Gedächtnisprotokoll der geburtsleitenden Ärztin, dass neben einem Wehentropf auch zweimal eine Bolusgabe des wehenfördernden Mittels Oxytocin gegeben wurde – ein im Gerichtsverfahren der Versicherten dann als grob fehlerhaft gewertetes Vorgehen. Das OLG Frankfurt hat die im Jahr 2001 gegebene Kenntnis von den Behandlungsunterlagen (einschließlich des Gedächtnisprotokolls) für den Verjährungsbeginn nicht ausreichen lassen. Und es hat den Fehler des Gutachters des MDK den klagenden Kassen nicht als eigene Fehler zugerechnet und auch klargestellt, dass der MDK nicht Wissensvertreter der Kranken- und Pflegekasse ist. Es hat weiter unterstrichen, dass die Klägerseite nicht verpflichtet war, zur Vermeidung des Vorwurfs grob fahrlässiger Unkenntnis das MDK-Gutachten durch weitere Gutachten überprüfen zu lassen.
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Die ärztliche Gutachtertätigkeit des MDK kann den Krankenkassen also nicht aus einer Vertreterstellung heraus zugerechnet werden. Insbesondere wird der MDK nicht wie ein vom Geschädigten oder vom SVT beauftragter Rechtsanwalt mit der Durchsetzung