Handbuch Arzthaftungsrecht. Alexander Raleigh Walter
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Zum Vorwurf grob fahrlässiger Unkenntnis gehört auch, dass die Beschaffung der Informationen mühelos und ohne nennenswerten Aufwand möglich gewesen wäre.[76]
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Diese Anforderungen stehen im Arzthaftungsbereich im Regelfall der Annahme grob fahrlässiger Unkenntnis so lange entgegen, bis die Patientin/der Patient durch eine medizinische Begutachtung den Verdacht eines Behandlungsfehlers und dessen Kausalität für den Schaden bestätigt erhält oder der Zusammenhang durch Beweiserleichterungen konstruiert werden kann. Die Patientin/der Patient ist nicht verpflichtet, eine solche medizinische Begutachtung zu veranlassen, um sich auf diesem Wege die nötige fachmedizinische Kenntnis zu beschaffen.[77]
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Nach der Entscheidung des BGH vom 26.5.2020[78] wird grob fahrlässige Unkenntnis auch dann nicht angenommen, wenn die den Patienten vertretende Anwaltskanzlei über medizinische Fachkenntnisse verfügt, die Behandlungsunterlagen vorliegen, der zuständige Anwalt diese Unterlagen aber noch nicht auf schadenskausale Behandlungsfehler ausgewertet hat. Es könne vom Patienten oder seinem Wissensvertreter nicht verlangt werden, dass er Krankenhausunterlagen auf ärztliche Behandlungsfehler überprüft, es sei denn, es handelte sich um Feststellungen, die sich ohne weiteres treffen lassen.[79]
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Das OLG Bamberg hat in einem PKH-Prüfungsverfahren grob fahrlässige Unkenntnis des Patienten daraus abgeleitet, dass er nach anfänglicher Einschaltung seiner Krankenkasse in einer jedem elementaren Sorgfaltsmaßstab zuwider laufenden Weise die ihm erwachsenen Erkenntnismöglichkeiten aus der Zusammenarbeit mit der Krankenkasse ungenutzt gelassen habe.[80] Es sei daher ausschlaggebend der Untätigkeit des Klägers bzw. seines damals tätigen Anwalts zuzuschreiben gewesen, dass der durch zwei Vorgutachten des MDK bei der Krankenkasse schrittweise erlangte und dort von der Patientenseite jederzeit abrufbare Kenntnisstand nicht in verjährungsrelevanter Zeit erreicht worden war. Das OLG Bamberg spricht insoweit von einer „Kooperationsvereinbarung“ mit der Krankenkasse, die der Patient nicht genutzt habe. Das Urteil ist im Ergebnis nachvollziehbar, zumal sich der Behandlungsfehlerverdacht durch die bereits eingeholten MDK-Gutachten bereits verdichtet hatte, es also sehr naheliegend war, an der kostenlosen Aufklärung des Behandlungsgeschehens weiter mitzuwirken. Es hätte nur einzelner ergänzender Informationen oder Unterlagen bedurft, um zu den erforderlichen medizinischen Erkenntnissen zu gelangen. Ich halte den Begriff der Kooperationsvereinbarung jedoch für nicht passend. Dem gesetzlich Versicherten steht ein Leistungsanspruch aus § 66 SGB V zu, dessen Erfüllung weit in das Ermessen der Krankenkasse gestellt ist. Bedient er sich dieses Anspruches, geht er keine Kooperationsvereinbarung ein. Er lässt sich beraten. Dass dieser Beratungsanspruch auch eng gesehen werden kann, lässt sich der Entscheidung des LSG Schleswig-Holstein vom 23.3.2015 entnehmen, welches die notwendige Information des Versicherten regelmäßig in der Angabe der Diagnose, der Therapie sowie des Namens des behandelnden Arztes als erschöpft ansieht, ggf. noch ergänzt um ein Gutachten des MDK.[81]
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Allgemein wird man aber eine Nachfrageobliegenheit bei der Krankenkasse und über diese bei dem MDK nicht mit den Grundsätzen der Entscheidung des BGH vom 10.11.2009 in Einklang bringen können. Der MDK kann nicht als leicht zugängliche, sich jedem aufdrängende Informationsquelle angesehen werden.[82] Es bedarf, wie der BGH in seiner Entscheidung vom 10.11.2009 deutlich gemacht hat, weiterer Umstände, die eine Nachfrage bzw. Inanspruchnahme einer Informationsquelle in besonderer Weise nahelegen. Wenn der Patient andere Wege zur Kenntnisbeschaffung wählt, kann ihm mit Sicherheit nicht vorgehalten werden, er hätte günstiger, schneller und leichter die Einschaltung des MDK veranlassen können. Ist der Patient schon nicht verpflichtet, sich im Hinblick auf einen möglichen Haftungsprozess medizinisches Fachwissen anzueignen.[83], muss ihm erst Recht überlassen bleiben, welchen Weg er zur Klärung eines möglichen Behandlungsfehlers wählt.
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Wird in einem MDK-Gutachten der Behandlungsverlauf dargestellt und dahingehend bewertet, dass keinerlei Versäumnisse festzustellen seien, hat die Patientenseite keine Kenntnis von einem Behandlungsfehler erhalten und sie muss das Gutachten auch nicht anzweifeln oder überprüfen lassen.[84] Es fehlt weiterhin an den subjektiven Voraussetzungen des Verjährungsbeginns.
E. Besonderheiten bei der Kenntnis und grob fahrlässigen Unkenntnis von Sozialversicherungsträgern
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Da der Schadensersatzanspruch im Rahmen der Leistungspflichten eines Sozialversicherungsträgers (SVT) auf diesen i.d.R. bereits im Schadenszeitpunkt übergeht, kommt es für die Frage der verjährungsrelevanten Kenntnis oder grob fahrlässigen Unkenntnis nicht darauf an, welche Kenntnis die/der Versicherte hat. Es kommt auf die Kenntnis des SVT und dort auf die Kenntnis oder grob fahrlässige Unkenntnis der zuständigen Bediensteten der für Regresse zuständigen Abteilung an.[85]
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Ein besonderes Augenmerk ist in der Literatur zur Schuldrechtsmodernisierung auf die Frage gesetzt worden, inwieweit eine mangelnde Organisation des Informationsflusses innerhalb eines SVT oder einer Behörde diesen als grob fahrlässige Unkenntnis zugerechnet werden kann. Mansel/Budzikiewicz[86] sahen in dem Unterlassen eines Mindestmaßes an aktenmäßiger Erfassung und geregeltem Informationsaustausch über verjährungsrelevante Tatsachen innerhalb arbeitsteiliger Unternehmen, Behörden und Körperschaften einen Fall der grob fahrlässigen Unkenntnis. Mit dieser Ansicht würde Kenntnis auch über den Kreis der Bediensteten der Regressabteilung hinaus Relevanz entfalten. Marburger[87] wollte dagegen allein die grob fahrlässige Unkenntnis dieser Bediensteten gelten lassen. Der BGH hat, wie unter I. zu zeigen sein wird, einen vermittelnden Weg gefunden, nach dem Kenntnis oder grob fahrlässige Unkenntnis bei der für Regresse zuständigen Abteilung vorliegen muss, diese aber zugleich auch in die Verantwortung für die Organisation eines ausreichenden Informationsflusses genommen wird.
I. Grundsatzentscheidungen zur Kenntnis des SVT im Behandlungsfehlerbereich
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Nach der zum Arzthaftungsbereich grundlegenden Entscheidung des BGH vom 28.2.2012[88] löst auch ein schwerer Schaden – im Streitfall ein schwerer Geburtsschaden – mit hohen Aufwendungen der Krankenkasse und der Pflegekasse bei diesen keine Verpflichtung aus, der Ursache und einer möglichen Verursachung durch Behandlungsfehler nachzugehen.
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Maßgeblich für die Kenntnis oder grob fahrlässiger Unkenntnis sind die Verhältnisse in der Regressabteilung des Sozialversicherungsträgers. Der BGH unterstreicht, dass die Mitarbeiter der Leistungsabteilung zur Vermeidung der Verjährung der Ansprüche keine Initiativen zur Aufklärung des Schadensgeschehens entfalten müssen und dass eine diesbezügliche Nachlässigkeit nicht zur grob fahrlässigen Unkenntnis des Sozialversicherungsträgers führt. Das gelte auch für den negativen Ausgang einer Behandlung mit schweren Folgen. „Den Mitarbeitern des Sozialversicherungsträgers bietet die Schwere des Krankheitsbildes des Leistungsempfängers ohne Hinzutreten weiterer