Moderne Geister. Georg Brandes
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Der Gedanke, die zwei Milliarden Menschen der Erde, einen um den andern zur Vernunft zu bekehren, ist ein leerer Traum. Die Bekehrung ist unmöglich, aber auch unnöthig. Es handelt sich nicht darum, dass alle Menschen das Wahre erkennen, sondern darum, dass es von einigen Wenigen erkannt, und die Ueberlieferung bewahrt werde. Abel's Theorien sind um nichts weniger unanfechtbar, weil es auf Erden nur etwa hundert Menschen gibt, die sie verstehen. Für die Wahrheit ist nicht nöthig, dass alle Welt sich zu ihr bekenne; die sie nicht verstehen, sollen sich ihr nur beugen.
Die höchste Cultur aber kann von der Menge weder verstanden noch gewürdigt werden. Da gilt es denn, sie gegen die Menge sicherzustellen. In alten Tagen kam die Gefahr besonders von der Kirche. In den unseren wird die Entwicklung vornehmlich von der herrschenden Anschauung, der Staat brauche nur das materielle Wohl der Individuen im Auge zu haben, bedroht.
Ein Genie ist ja etwas sehr Seltenes und Kostbares. Es scheint, dass etliche Millionen Menschen auf Eine für den Fortschritt massgebende Persönlichkeit kommen, ja dass, um Geister ersten Ranges hervorzubringen, Gesellschaftskörper von dreissig, vierzig Millionen Menschen vonnöthen seien. Diese Geister aber werden von der Mittelmässigkeit instinktiv gehasst. Sie weiss Leinwand, allenfalls Tuch zu würdigen, nicht aber Spitzen.
Der grosse Mensch ist Renan gleichwohl kein Luxus. In Wirklichkeit bedeutet er das vorläufige Ziel, und worauf es mit Rücksicht auf die Ziele der Natur ankommt, ist denn, dass der grosse Mensch zur Macht gelange. Nur so ist die Vernunftentwicklung sicherzustellen.
In der Urzeit galt der bedeutende Mann für einen Zauberer. Man zitterte vor ihm. Die Brahmanen haben jahrhundertelang vermöge des Aberglaubens regiert, dass ihr Blick dem Angehörigen einer niederen Kaste, auf den er falle, tödtlich sei. Die Kirche, die einst die Culturmacht war, hatte die Höllenstrafen als Waffe – eine gar wirksame, so lange an sie geglaubt wurde. Als die Königsmacht die Culturträgerin wurde, schuf auch sie sich ihre Waffen: Heere und Kanonen, Richter und Gefängnisse. Ein Jeder ist nur stark im Verhältnisse zu der Furcht, die er einzuflössen vermag.
Das von Renan erträumte Ziel ist demnach, die Träger der Entwicklung, die Culturträger mit den entscheidenden Machtmitteln auszustatten, sie aufs neue zu einer Art von Zauberern zu machen. In ihren Händen allein würde die Macht nicht odios, sondern wohlthätig sein. Sie würden als die menschgewordene Vernunft erscheinen, als eine wahrhaft unfehlbare päpstliche Macht. Mit den Schreckmitteln, welche die moderne Wissenschaft in ihre Hand legte, würden sie einen Terrorismus der Vernunft einführen.
Wir erleben in unseren Tagen, wo wir das Dynamit in den Händen der zerstörenden und die Millionenheere mit den verfeinerten Mordwerkzeugen in der Gewalt der reactionären Elemente sehen, eine Schreckensherrschaft der Brutalität. Renan stellt sich nun vor, dass der Bund aller der höchsten und reinsten Begabungen unwiderstehlich sein würde, weil er über die Existenz des Planeten selbst geböte. Er übersieht merkwürdigerweise, dass selbst wenn dies nicht eine blosse Phantasie wäre, sich die Drohung mit der Vernichtung des Planeten aus dem Grunde als unbrauchbar erwiese, weil sie den Widersetzigen gegenüber sich nicht stückweise ausführen liesse.
Zur selben Zeit, als Eduard v. Hartmann den Traum einer freiwilligen Selbstvernichtung der Menschheit auf ähnliche Art durch einen Beschluss der höchststehenden Menschen träumte, hat Renan von dieser Drohung als Mittel in der Hand der höchststehenden Wesen geträumt. Wesen müssen sie genannt werden, nicht Menschen; denn sie sind es, die später bei Nietzsche mit dem Namen Uebermenschen belegt werden.
Ist nur einmal der Begriff der Entwicklung gesichert, wird, nach Renan's Meinung, wie die Menschheit aus der Thierheit hervorging, das Göttliche aus dem Menschlichen hervorgehen können. Wesen werden entstehen können, welche die Menschen so gebrauchen, wie jetzt wir die Thiere.
Er hat zunächst im Scherze Phantasien über eine Art Stuterei solcher genialer Herrschergeister, eine Art Asgaard, entwickelt. Allen Ernstes glaubt er an die Möglichkeit des Entstehens einer höheren Menschenart, und an diesem Punkte eben ist es, wo Renan die Anknüpfung an die Shakespeare'sche Dichtung sucht.
Prospero ist der Zukunftsmensch, der Uebermensch. Renan erblickt daher in ihm das erste Exemplar der höheren Menschheit, den wirklichen Zauberer.
Die Handlung des Schauspiels „Caliban“ bildet Caliban's Empörung gegen Prospero und der siegreiche Ausgang dieser Empörung.
Folgendes bildet die Voraussetzung des Stückes: Jedes Wesen ist undankbar, alle Erziehung kehrt sich wider den Erzieher; das Erste ist stets, die Waffen, die er die subalterne Persönlichkeit gebrauchen lehrte, gegen ihn zu kehren. So im Verhältnisse der Klassen zu einander, so im Verhältniss der einzelnen Persönlichkeiten im öffentlichen Leben.
Caliban verabscheut seinen Erzieher, Wohlthäter und Zuchtmeister Prospero. Ariel hingegen verehrt ihn, denn er erfasst Prospero's Gedanken. Prospero glaubt, dass Gott die Vernunft ist, und arbeitet darauf hin, dass Gott, das heisst die Vernunft, sich die Welt mehr und mehr unterthan mache. Prospero glaubt an den Gott, der das Genie im genialen Manne, die Güte in der zärtlichen Seele, überhaupt das allgemeine Streben nach der Existenz dessen ist, was allein in Wahrheit existirt.
Man verachtet den Herzog an seinem Hofe, wie man einen Regenten, der gelehrt ist, verachtet. Man hat nur vor demjenigen Respect, der todtschlägt, und Prospero wird von einer „Revolution der Verachtung“ bedroht.
Wir sehen hierauf Caliban den gemeinen Mann aufwiegeln. Er spiegelt diesem vor, Prospero beute das Volk aus. Es gelte, sich seiner Bücher und Destillirkolben zu bemächtigen. Man bittet Caliban, die allgemeine Glückseligkeit zu decretiren. Er verspricht, es zu thun, wenn die Zeit dazu komme: Später, später! – Es lebe Caliban, der grosse Bürger! – Er empfängt Processionen, Deputationen und Gesuche, wird Volksredner, verspricht, Alle zufrieden zu stellen: Wir sind aus euch hervorgegangen, wir wollen für euch wirken, wir existiren durch euch.
Abends legt er sich in Prospero's Bett zur Ruhe. Er grübelt: Ich war ungerecht gegen Prospero. Welche Begehrlichkeit nach Genuss! Welches Umsturzverlangen! Eine Regierung muss Widerstand leisten. Ich will Widerstand leisten.
Schon ist er hoch conservativ, sieht ein, dass Schlösser, Hoffeste, fürstliche Pracht die Zierde des Lebens seien.
Da Künstler und Schriftsteller die Ehre eines Reiches sind, will er Kunst und Literatur heben und fördern. Doch der Mittelpunkt aller seiner Gedanken bildet Imperia, die reizende Courtisane – wohl bekannt aus Balzac's „Contes drôlatiques“ – die kürzlich bei einem Feste in Prospero's Palaste, bei welchem verschiedene Lebensanschauungen zur Erörterung gekommen, die Sache der Liebe verfocht. Er will ihre nähere Bekanntschaft machen.
Es bleibt Prospero nicht lange unbekannt, dass Caliban, sein Thier, sein Ablöser geworden. Ariel's Phantasmagorien haben sich den Schaaren Caliban's gegenüber als unwirksam erwiesen; Niemand unter diesen Schaaren glaubt mehr an Zauber, und die Aufrührer haben Prospero's Pulver und Kriegsmaschinen in Gebrauch genommen. Bei der nun folgenden Berathung über die zu ergreifenden Massregeln äussert sich Renan über den geringen Nutzen, welchen er sich von dem Elementar-Unterrichte verspricht, indem er „Simplicon“ die Replik in den Mund legt, „allgemeiner obligatorischer Schulunterricht würde allen Uebeln abhelfen“. Der gemässigte Bonaccorso aber spricht das erlösende Wort, die neue Regierung scheine wohlgesinnt; Caliban sei bereits der Mittelpunkt der gemässigten Partei.
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