Moderne Geister. Georg Brandes
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Paris gab ihm den tiefen Ekel vor der Pedanterie ein, lieh ihm überhaupt erst die letzte, volle Ueberlegenheit. Sie gestaltete sich zum Schlusse auch zur Ueberlegenheit über Paris; aber das Entscheidende war, dass allmälig der Bretagner zum Pariser, der Jünger Herder's zum Franzosen der Hauptstadt geworden war. Bis 1870 noch ein halber Deutscher, wurde er nach dem Kriege und dem Friedensschlusse ein ganzer Pariser und erhielt im Alter erst seine rechte Jugend. Das aber, was in den geistig massgebenden Pariser Kreisen dem guten Ton sein Gepräge gibt, ist formvolle Rücksichtslosigkeit.
Er hat viel von einzelnen Persönlichkeiten, viel von Berthelot als Denker, viel von George Sand als Schriftsteller gelernt (seine Landschaften erinnern an die ihren). Am meisten aber lernte er von Paris, und zuletzt war er ganz Pariser, wenn anders Jemand, der sechs- oder siebenerlei Culturen beherrscht, ja für sich allein eine kleine Culturwelt genannt werden kann, also zu heissen ist.
Anfangs hegte er gegen Béranger, um dessen gutmüthiger Flachheit willen, wie wegen des Gallisch-Populären in ihm, eine lebhafte Abneigung. Er endete damit, in einer Béranger verwandten Weise, wenn auch in weit höherer Potenz, als es dieser gewesen, gallisch populär, väterlich scherzhaft zu werden.
Er war zuletzt wie eine Quintessenz des französischen Geistes, ein Kraftauszug des feinsten, das dieser enthält. Mit dem eintretenden Greisenalter verklärte sich die Ueberlegenheit zu einer Art Serenitas, zu wolkenloser Heiterkeit und Klarheit.
Davon gibt die kleine Reihe philosophischer Schauspiele, die Renan in den Jahren 1878 bis 1886 herausgab, beredtes Zeugniss.
II
Obgleich heutigen Tages die Theater fast gänzlich Unterhaltungsanstalten für die Armen im Geiste, für jenen beträchtlichen Theil des Bürgerstandes, der nicht lesen kann oder mag, geworden sind, bewahrt die dramatische Form nichtsdestoweniger für Viele ihren Reiz. Es ist die bündigste, geschlossenste Form, in welcher man ein Lebensbild, eine Handlung kennen zu lernen vermag. Wer über zwei Stunden und nicht mehr verfügt, wird nicht nach einem Romane, sondern nach einem Schauspiel greifen. Er weiss, alles nicht streng zur Sache Gehörige ist hier ausgeschieden.
Auch andere Männer als eigentliche Dichter haben sich von der Gesprächsform angezogen gefühlt. Es sind das solche, deren Gedanken sich in Sphären bewegen, in welchen es keine unanfechtbare Wahrheit, keine volle Sicherheit gibt, wo vielmehr verschiedene Meinungen, Auffassungen, Ueberzeugungen zu Worte kommen können. Ausserhalb der Mathematik und der exacten Wissenschaften gibt es wenig unbedingt Sicheres, Vieles, worüber sich Verschiedenes für und wider sagen lässt. Innerhalb der Geisteswissenschaften ist beinahe Alles Gegenstand immer erneuerter Erörterung. Von diesem Gefühle beherrscht, schrieb Plato seine Werke in Dialogform. Das gleiche Gefühl führte in unseren Tagen Renan zu deren Anwendung. Kurz nach der Beendigung des französisch-deutschen Krieges schrieb er erst eine Reihe philosophischer Gespräche und brachte hierauf einige seiner Lieblingsideen in bestimmterer dramatischer Form zum Ausdrucke. In den Pausen zwischen seinen streng wissenschaftlichen Arbeiten hat er vier philosophische Schauspiele und ein Paar dialogisirte Prologe geschrieben.
Sein Ausgangspunkt als Dramatiker war Shakespeare's „Sturm“, welcher – an und für sich höchst merkwürdig als der wahrscheinliche Schlussstein an Shakespeare's dramatischem Bau, wie als diejenige Arbeit des Dichters, die mehr als irgend eine andere tief und deutlich symbolisch ist – Renan durch das Sinnbildliche der drei Hauptpersonen: Prospero, Caliban und Ariel, ergriff.
Caliban ist das formlose Naturwesen, der Urbewohner, halb Thier, halb Kannibale, roh und furchtbar, niedrig und dumm, eine Station erst auf dem Wege zum Menschthum. Prospero ist der Zukunftstypus einer höchsten Veredlung der Menschennatur, ein Wesen, das in gleich königlicher, genialer Weise sich die äussere Natur unterworfen und seine innere ins Gleichgewicht gebracht hat, alle Bitterkeit über erlittenes Unrecht in der Harmonie ertränkend, die seinem reichen Seelenleben entströmt.
Prospero beherrscht die Naturkräfte. Statt ihm aber den Zauberstab der Ueberlieferung zu leihen, hat Shakespeare die Naturkraft selber zu seinem dienstbaren Geist gemacht. Ariel, das ist der Geist. Shakespeare, so scheint es, hat sich selbst als jenen Magus auf der verzauberten Insel des Theaters darstellen wollen, dem der Lichtgeist Diener, der Geist der Rohheit Sklave ist.
Diese Gestalt musste auf Renan nothwendig einen starken Eindruck machen, passte sie doch ganz merkwürdig in den Ideengang hinein, zu dem seine Lebensansicht ihn geführt hatte. Früh hatte sich ihm die Erkenntniss aufgedrängt, dass das Werthvollste am Menschen ihn in allen weltlichen Beziehungen des Kampfes um das Dasein in einen Zustand der geringeren Widerstandskraft versetze. Echtes Talent, tiefinnige Güte, vollkommener Hochsinn sind häufig Bedingungen des Unterliegens. Wer im Spiele betrügt, wirft die meisten Augen, wer mit Schneiderhieben zur Hand ist, verwundet seinen Gegner.
Es wollte ihm scheinen, dass die Welt fast ausschliesslich von der Rohheit, der Unwahrheit, der Marktschreierei regiert werde. Kein Wunder also, dass Prospero aus seinem Reiche vertrieben wird.
Renan neigte zu der Ansicht, dass Alle, die da arbeiten und wirken, von der Weltenmacht zu einem höheren Zwecke kraft dessen ausgebeutet werden, was Hegel, der einen ungemeinen Einfluss auf Renan geübt, die List der Idee, er selbst jedoch den Macchiavellismus der Natur nannte.
Diese Ansicht hat eine stete Ironie in Renan's Haltung zur Folge gehabt. Er will sich zwar um Genüsse betrügen lassen, ohne Lohn arbeiten und entsagen, da doch alle Arbeit viel Entsagung fordert, allein er will dem All gegenüber, das er als alter Theologe gerne personificirt, eine Haltung bewahren, die bezeugt, er wisse sich getäuscht. Daher liegt ihm aller Pharisäismus so ferne. Er ist nicht stolz auf seine Tugenden. Er weiss, als tugendhaft wird er geprellt. Doch er willigt ein, sich prellen zu lassen.
Wenn Renan gleich Hegel und Schopenhauer an einen Macchiavellismus der Natur glaubt, so kommt es daher, dass ihm die Vorstellung eines Naturzweckes vorschwebt. Nun hat die moderne Wissenschaft diesen Begriff bekanntlich geschleift und erst wirkliche Fortschritte gemacht, nachdem er geschleift worden. Ueberall späht jetzt die Wissenschaft nach wirkenden Ursachen, wo man früher ohne Nutzen nach Zweckursachen gesucht hat. Jener grosse Theil der modernen Forschung, der in den Darwinismus mündete, hat seine Stärke darin, die Vorstellung von einem Zwecke in der Natur überflüssig gemacht zu haben. Was sich den Verhältnissen und Umgebungen anpasst, überlebt das Andere. Es nimmt sich nur aus, als entspräche es einem Zwecke, weil die Lebensmöglichkeit von der eingetretenen Aenderung abhing.
Der Darwinismus berührt indessen durchaus nicht die höchsten Fragen, beschäftigt sich nicht mit dem uranfänglichen Lebenstriebe, dem Streben (nisus), welches das Princip der Bewegung ist.
Die Mathematik ist bekanntlich eine grosse Tautologie. Wie verwickelt die Berechnungen und Messungen auch sein mögen, stets bleibt gleich viel auf beiden Seiten des Gleichheitszeichens, und Alles lässt sich auf den Identitätssatz a = a zurückführen. Aber auch das Weltall ist eine grosse Tautologie. Das Gesetz der Erhaltung der Kraft zeigt es uns als solche: kein Staubkorn und keine Bewegung kann verschwinden; Alles ist blosser Umsatz; bei der grossen Verbrennung wird nichts vernichtet; die Summe ist unabänderlich dieselbe.
Nichtsdestoweniger ist die Welt in keinem Zustande der Ruhe. Desshalb hält Renan sich für berechtigt, ein Ziel in der Natur vorauszusetzen und von einer Gottheit zu sprechen. Diese Gottheit ist der Lebenstrieb, und das Ziel ist, wie Hegel sagte, Bewusstsein. Die Natur strebt nach einem immer vollkommeneren Bewusstsein. Renan drückt dies so aus, dass die kleine Ernte an Vernunft, Hochsinn, Schönheitswerken und Weisheit, die jeder Planet im Laufe seiner Lebenszeit einzuheimsen vermag, der Endzweck dieses Planets sei, wie Gummi der des Gummibaumes. Wir glauben, es lasse sich in jedem Zeitalter ein kleiner Zuschuss an Vernunft und Güte beobachten, und leiten davon den Glauben an einen Fortschritt ab.
Wie aber diesen Fortschritt sichern,