Hans Fallada – Gesammelte Werke. Hans Fallada

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Hans Fallada – Gesammelte Werke - Hans  Fallada Gesammelte Werke bei Null Papier

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ich mein­te. Ich wuss­te nur, dass es schlimm um mich stand, sehr schlimm.

      Zwei Zei­len ei­nes Ge­dichts, das ich ein­mal ge­le­sen, zo­gen mir durch den Kopf: »Dies ist der Herbst, der bricht dir noch das Herz.« Hart­nä­ckig ka­men sie wie­der, sie wie­der­hol­ten sich in mir mit ei­ner ver­zwei­fel­ten Hart­nä­ckig­keit. »Dies ist der Herbst, der bricht dir noch das Herz.« Zwei Wor­te ge­sell­ten sich noch dazu: »Flie­ge fort, flie­ge fort!« Ja, wer fort­flie­gen könn­te von die­ser be­schmutz­ten Erde, von die­sem be­su­del­ten Ich! Aber im­mer wie­der: »Dies ist der Herbst, der bricht dir noch das Herz.« Und im­mer nach­klin­gend die Mah­nung: »Flie­ge fort! Flie­ge fort!«

      Ich sah nach dem star­ken Schnei­de­mes­ser hin­über, mit dem ich die Bors­ten glatt schnitt. Es wür­de ein Leich­tes sein, sich mit ihm den Arm auf­zu­schnei­den, dass ich ver­blu­te­te. Aber ich wuss­te, ich wür­de nie den Mut dazu ha­ben. Denn ich war fei­ge, in die­ser Mi­nu­te ge­stand ich es mir rück­halt­los ein, dass ich ein Feig­ling war; bei der Auf­zäh­lung mei­ner schlech­ten Ei­gen­schaf­ten hat­te Mag­da die­se noch ver­ges­sen. »Flie­ge fort!« Und doch zu fei­ge …

      So fand mich der Ober­pfle­ger, der mich un­ter den zu Ver­bin­den­den ver­misst hat­te. Er fuhr mich hart an: Mei­ne Fu­run­kel wür­den nie bes­ser wer­den, wenn ich nicht selbst für re­gel­mä­ßi­ges Ver­bin­den sorg­te!

      Ich folg­te ihm voll­stän­dig gleich­gül­tig ins Arzt­zim­mer. Der Strom der Lei­den­den hat­te sich schon ver­lau­fen, ich war der Letz­te. Der Ober­pfle­ger riss mir die Ver­bän­de ab, salb­te und jo­dier­te oder stach auch ein­mal in einen ihm reif schei­nen­den Fu­run­kel. Und so emp­find­lich ich sonst ge­gen Schmerz bin, an die­sem Mor­gen mach­te mir das al­les gar nichts. Ich war völ­lig stumpf.

      Dann klin­gel­te das Te­le­fon im Glas­kas­ten. Der Ober­pfle­ger ging dort­hin, die Tür weit of­fen­las­send. Ei­nen Au­gen­blick stand ich noch re­gungs­los, dann such­te mein Blick den Me­di­ka­men­ten­schrank, sei­ne Tür stand weit of­fen. Rasch trat ich einen Schritt auf ihn zu. Dort lag Ver­ges­sen für vie­le Stun­den, Aus­lö­schen der un­er­träg­li­chen Qual, un­ter der ich jetzt leb­te. Gute, Frie­den schen­ken­de Schlaf­mit­tel für vie­le Tage. Mei­ne Hand griff nach ei­nem Glas­röhr­chen, als mein Blick auf eine Rei­he Fla­schen fiel, die im un­ters­ten Fach stan­den. Gleich vornan stand eine hel­le Fla­sche mit dem Eti­kett: »Al­ko­hol 95%«.

      Ich hat­te kei­nen Ent­schluss ge­fasst, ich han­del­te rein me­cha­nisch. Ich küm­mer­te mich auch nicht um die of­fen­ste­hen­de Tür oder den Ober­pfle­ger, der je­den Au­gen­blick zu­rück­kom­men muss­te. Ich nahm die Fla­sche und ging zu dem in die Wand ein­ge­las­se­nen Wasch­tisch. Ich nahm ein Was­ser­glas und füll­te es zu zwei Drit­teln mit Al­ko­hol, dann füll­te ich Was­ser nach, sehr vor­sich­tig. Mei­ne Hand hat da­bei nicht ge­zit­tert. Ich setz­te das star­ke Ge­misch an den Mund und trank es mit drei, vier Schlu­cken leer.

      Ei­nen Au­gen­blick stand ich wie be­täubt, eine un­ge­heu­re Hel­le brei­te­te sich rasch in mir aus. Ich lä­chel­te, ach, das Glück, noch ein­mal das schran­ken­lo­se, herr­li­che Glück. Mei­ne Eli­nor, du rei­ne d’al­cool! Wie ich dich lie­be! Wie – ich – dich – lie­be! Dann bin ich be­wusst­los vorn­über zu Bo­den ge­stürzt, ge­ra­de auf mein ge­schän­de­tes Ge­sicht.

      64

      Es hat kei­nen Ter­min mei­net­we­gen ge­ge­ben. Das Ver­fah­ren ge­gen mich wur­de nach § 51 ein­ge­stellt und mei­ne dau­ern­de Un­ter­brin­gung in ei­ner Heil- und Pfle­gean­stalt ver­fügt. Ei­nen Schei­dungs­ter­min gab es wohl, aber ich brauch­te zu ihm nicht zu er­schei­nen, da­mals war ich schon ent­mün­digt. Ein Ober­se­kre­tär, vor­ne in der Ver­wal­tung der An­stalt, ist mein Vor­mund ge­wor­den. Üb­ri­gens sind wir bei­de schul­dig ge­schie­den, aber Mag­da hat ih­ren Hein­rich Hein­ze hei­ra­ten dür­fen, über mei­nen An­trag ist gar nicht ver­han­delt wor­den. Ich bin ja nur ein Geis­tes­kran­ker. Ich habe die Hei­rats­an­zei­ge in der Zei­tung ge­se­hen. Jetzt ha­ben sie zwei Kin­der, einen Jun­gen und ein Mäd­chen; sie ha­ben die Ge­schäf­te zu­sam­men­ge­legt …

      Was geht mich das al­les an? Was geht mich die Welt drau­ßen noch an? Es ist mir al­les gleich­gül­tig ge­wor­den, ich bin ein al­tern­der, ab­scheu­lich aus­se­hen­der Bürs­ten­ma­cher, mitt­ler­er Ar­beits­leis­tung, geis­tes­krank. Die Zei­ten der ers­ten to­ben­den Verzweif­lung sind längst vor­bei, schon längst habe ich es auf­ge­ge­ben, mei­nen Arm un­ter das Schnei­de­mes­ser zu le­gen und zu ver­su­chen, ob ich nicht viel­leicht doch eine Mi­nu­te mei­nes Le­bens mu­tig bin. Ich weiß, jede ein­zel­ne Se­kun­de mei­nes Le­bens war ich ein Feig­ling, bin ich ein Feig­ling, wer­de ich ein Feig­ling sein. Um­sonst, auf et­was an­de­res zu war­ten.

      Ich ge­nie­ße ein be­stimm­tes be­schränk­tes Ver­trau­en im Hau­se, ich fal­le nie läs­tig, ich ma­che kei­nem Ar­beit, ich son­de­re mich von den an­de­ren ab. Ich darf mich ziem­lich frei be­we­gen im Bau. Nur darf ich nie das Arzt­zim­mer be­tre­ten, ohne dass der Ober­pfle­ger da­bei ist, das ist mir bei acht Wo­chen stren­gem Ar­rest ver­bo­ten. Ich möch­te es oft, ich könn­te es manch­mal, aber ich wage es nie. Ich bin eben fei­ge.

      Ich habe eine be­hag­li­che Stel­lung, ich habe im­mer ge­nug zu rau­chen und lei­de nie Hun­ger. Zwei­mal in der Wo­che kauft mein Vor­mund von den Gel­dern, die mei­ne frü­he­re Frau re­gel­mä­ßig für mich ein­zahlt, ein für mich, was mein Herz be­gehrt und was zu­läs­sig ist. Ich kann nie ver­brau­chen, was ein­ge­zahlt wird, ich wer­de als wohl­ha­ben­der Mann ster­ben. Ich ahne es nicht, wer mich be­er­ben wird, es in­ter­es­siert mich auch nicht. Mein frü­her er­rich­te­tes Te­sta­ment ist durch die Schei­dung hin­fäl­lig ge­wor­den, und ein neu­es darf ich nicht er­rich­ten, ich bin näm­lich geis­tes­krank.

      Aber ich bin doch nicht so geis­tes­krank und apa­thisch ge­wor­den, dass ich nicht noch einen Plan hät­te und eine klei­ne Hoff­nung. Ge­wiss, den Ge­dan­ken an das Schnei­de­mes­ser habe ich auf­ge­ben müs­sen, aber ich kann er­lei­den, ich ver­mag zu er­tra­gen, was über mich her­ein­bricht. Ich bin, wie ich wohl ohne Über­heb­lich­keit sa­gen darf, ein großer Dul­der.

      Ich habe noch nicht er­wähnt, dass wir im un­ters­ten Stock des An­baus im­mer fünf oder auch sie­ben Tu­ber­ku­lö­se lie­gen ha­ben, ehe­ma­li­ge Lei­dens­ge­fähr­ten, die man von uns iso­liert hat. Sie be­kom­men ein et­was bes­se­res und reich­li­che­res Es­sen und brau­chen nicht mehr zu ar­bei­ten, bis sie ster­ben. Die­se Kran­ken ha­ben klei­ne Fläsch­chen, in die sie ih­ren Aus­wurf spu­cken, und ihre Iso­lie­rung ist nicht so streng, dass ich, der ich mich ziem­lich frei im Bau be­we­gen darf, nicht manch­mal ein sol­ches Fläsch­chen er­wi­schen könn­te. Ich trin­ke es dann ein­fach aus. Ich habe schon drei sol­cher Fläsch­chen aus­ge­trun­ken, und ich wer­de noch mehr aus­trin­ken.

      Nein, ich will nicht in die­sem To­ten­haus ur­alt wer­den und dann lang­sam ver­re­cken, ich will einen Tod ster­ben, wie ihn alle drau­ßen ha­ben kön­nen – nach ei­ge­ner Wahl. Ich bin si­cher, ich bin heu­te schon tu­ber­ku­lös. Ich habe stän­dig Ste­chen in der Brust und hus­te viel, aber ich mel­de mich nicht zum Arzt, ich ver­ste­cke mei­ne Krank­heit; ich will erst so krank sein,

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