Die großen Literaten der Welt. Katharina Maier
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Zu Kontroversen regte die Gelehrten seit jeher die legendäre Blindheit des großen Dichters Rūdakī an. Erblindete der Poet nach und nach oder wurde er vielleicht sogar geblendet, da er sich weigerte, weiterhin den Lobpreis der Herrschenden zu singen? Oder berichtet uns der Chronist ‘Awfi die Wahrheit, wenn er von Rūdakīs angeborener Blindheit spricht? Wie aber könnte ein von Geburt an Blinder Verse von der Einduckskraft eines Rūdakī verfassen – Verse, die die Schönheit der Natur in unsterbliche Worte fassen und in denen nicht zuletzt Farben eine zentrale Rolle spielen? Könnte die an der Musik geschulte Imagination Rūdakīs tatsächlich von einer derartigen übermenschlichen Kraft gewesen sein? – Was auch immer die Antwort auf diese Fragen sein mag, Abū ‘Abdollāh Dja’far ben Mohammad Rūdakī ist als der große blind-sehende Dichter in die Literaturgeschichte eingegangen.
Legendär ist auch der angebliche Umfang des poetischen Werkes Rūdakīs, das 1.300.000 bayts (Doppelverse) umfasst haben soll. Tatsächlich überliefert sind vom Diwan Rūdakīs, dessen tatsächlicher Umfang im Dunkeln liegt, nur an die 1.000 verschiedenen Genres zugehörige Verse. Auch von der Romanze Sindbād-Nāmē (›Das Buch des Sindbad‹) und der Fabelsammlung Kalīla wa Dimna sind nur Fragmente übriggeblieben. Letztere ist das unbestrittene Meisterwerk Rūdakīs, das trotz fehlender Überlieferung eine wichtige Rolle für die persische Literatur spielt. Kalīla wa Dimna ist die persische Übertragung einer wohl 2000 Jahre alten Sammlung von Tierfabeln aus dem Sanskrit und wurde von Rūdakī im Auftrag von Wesir Bal’ami angefertigt. Der Poet übersetzte jedoch die alten indischen Fabeln nicht einfach, sondern dichtete sie nach und setzte sie in Versform. Sie sind ein Musterbeispiel der ausgesprochen schlichten1 und dabei ungeheuer melodiösen Sprache des großen Farsi-Dichters, wie sie sich auch in dem folgenden berühmten Gedicht an den Fluss Amu-Daria (Oxus) zeigt:
Ich rieche gern den Duft des Molian-Bachs.
Er erinnert mich an die liebliche Geliebte.
Der Armur und sein rauer Sand
scheint mir wie Federn unter meinen Füßen.
Neben den lehrreich-amüsanten Tierfabeln und den Lobpreisliedern auf den König, den Hof und die Hauptstadt verfasste der Gelehrte Rūdakī Gedichte über zentrale Themen der menschlichen Existenz: das Verstreichen der Zeit, die Unabwendbarkeit des Todes, die Wichtigkeit der Liebe und das Verlangen nach Glück sowie die große Bedeutung von Wissen, Bildung, Erfahrung und Kunst. Dabei reicht sein Ton von Hedonimus bis Pessimismus, und Rūdakī erweist sich genauso als Meister der Erotik wie als weiser Denker.
Wichtige Werke:
Sindbād-Nāmē
Kalīla wa Dimna
1 Persisch für ›Schreibzimmer, Sammlung beschriebenen Papiers‹; Bezeichnung für Gedichtsammlung oder auch das lyrische Gesamtwerk eines Dichters in alpabetischer Ordnung; manche halten Rūdakī für den Begründer der literarischen Form des Diwan.
1 Die Kraft von Rūdakīs Poesie soll so groß gewesen sein, dass während eines Kriegszuges nach Herat in Afghanistan die Emire Nasr II. den Dichter baten, ein Loblied auf das heimatliche Bukhara zu verfassen, um den König zur Umkehr zu bewegen. Die Macht der Verse, die Rūdakī daraufhin auf die Schönheit Bukharas schrieb, ließ dann auch, so die Überlieferung, den König prompt Hals über Kopf gen Heimat aufbrechen.
1 Rūdakīs poetische Schlichtheit wurde allerdings nicht in allen Epochen der persischen/islamischen Literaturgeschichte geschätzt; je verkünstelter die Poetik der jeweiligen Epoche, desto geringer wurde die augenscheinlich so einfache Diktion Rūdakīs geachtet.
MURASAKI SHIKIBU
(UM 978–1016)
Der strahlende Prinz und die Dame Blauregen – Japans klassischer Roman
Die Geschichte des Prinzen Genji (Genji Monogatari, um 1003–1010), verfasst von der Kaiserlichen Hofdame Murasaki Shikibu, gilt vielen als der erste vollständige Roman Asiens, wenn nicht sogar der Welt. Ohne Zweifel ist, dass die monumentale Geschichte des ›strahlenden Prinzen‹ das herausragendste Werk der klassischen japanischen Literatur konstituiert und zu den großen Texten der Weltliteratur gehört.
Die Frage, ob einer der ersten, wenn nicht sogar der erste, Roman der Welt tatsächlich von einer Frau geschrieben wurde, beschäftigt die Fachleute bis zum heutigen Tag. Schon zu Murasaki Shikibus Lebzeiten kam das Gerücht auf, die Erzählung stamme eigentlich aus der Feder ihres Vaters, eine Vermutung, die sich bis heute hält. Auch andere bedeutende Zeitgenossen Murasaki Shikibus stehen ›in Verdacht‹ der möglichen Mitautorschaft an einem der komplexesten und ausladendsten Texte der Weltliteratur. Ähnlich wie im Falle des Œuvres William Shakespeares (1564–1616) erscheint Die Geschichte des Prinzen Genji als ein (fast) zu großes Werk, um es mit der historischen Gestalt seiner Verfasserin zu vereinbaren. Und konnte eine Frau in einer Zeit, in der Damen im Allgemeinen nur in der sogenannten ›Frauenschrift‹ schrieben, eine begrenzte Ausbildung erhielten und sich akzeptierterweise ausschließlich mit Poesie beschäftigten1, tatsächlich ein Erzählwerk von der Bandbreite der Geschichte des Prinzen Genji verfassen?
Murasaki Shikibus biographischer Hintergrund, auch wenn er nur in Fragmenten und zu einem Großteil über das Tagebuch der Murasaki Shikibu (Murasaki Shikibu nikki, 1008–1010) bekannt ist, deutet allerdings durchaus darauf hin, dass die Schriftstellerin die nötigen Voraussetzungen mitgebracht haben kann, um den monumentalen Roman zu verfassen, der unter ihrem Namen in die Literaturgeschichte eingegangen ist. Murasaki Shikibu, deren Geburtsname nicht bekannt ist – ›Shikibu‹ bezieht sich auf das Amt ihres Vaters im Ministerium für Zeremonien, ›Murasaki‹, d. i. Glyzinie bzw. Blauregen, stammt vermutlich von dem Namen der weiblichen Hauptfigur der Geschichte des Prinzen Genji, Murasaki no Ue –, entstammte der Fujiwara-Familie, einer der wichtigsten Familien in der japanischen Geschichte, und zwar entsprang die künftige Schriftstellerin einem literarisch ausgesprochen fruchtbaren Zweig derselben. Sowohl Murasaki Shikibus Großvater als auch ihr Vater und ihre Mutter waren poetisch tätig. Da die Mutter früh verstarb, wuchs Murasaki Shikibu, anders als zu dieser Zeit in der Adelsschicht üblich, nicht im mütterlichen, sondern im Haushalt des Vaters auf, wo sie – wieder völlig entgegen den Konventionen – zusammen mit ihrem jüngeren Bruder Nobunori unterrichtet wurde, also eine ›männliche‹ Bildung erhielt; unter anderem lernte sie Chinesisch, die ›männliche‹ Schriftsprache. Ihr Vater soll von der Intelligenz und schnellen Auffassungsgabe seiner Tochter so beeindruckt gewesen sein, dass er wortreich ihr weibliches Geschlecht beklagte, das ihr einen adäquaten