Gesammelte Werke. Isolde Kurz
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Anderseits strahlte aus den beruflichen Kämpfen Edgars, der immerzu mit der Eifersucht anderer Fremdenärzte und mit dem damaligen medizinischen Schlendrian der Einheimischen zu ringen hatte, auch so viel Unruhe in das persönliche Leben herüber, dass man mitunter freundschaftliche Beziehungen plötzlich zerstört sah, ohne zu wissen, warum. Dies trug auch stets aufs neue dazu bei, mich vom geselligen Verkehr abzuschneiden, aber ich hatte meine Arbeit, und mitten unter den Gestalten meiner Einbildungskraft berührten mich die Verluste weniger.
Aber was hilft es, die Blätter der Erinnerung umschlagen, um die Spuren des eigenen Lebens darin zu finden! Unsere wahre Geschichte steht nicht auf diesen Blättern. Vielleicht lebt kein tieferer Mensch seine wahre Geschichte. Die äußeren Vorgänge sind es ja nicht, sie werfen höchstens ihre Schatten herein. Unser wahres Leben geht im Unausgesprochenen und Unaussprechbaren, von uns selber nicht Gewussten vor. Wie wahr sagt Rilke: »Mit kleinen Schritten gehn die Uhren / Neben unsrem eigentlichen Tag.« Wo scheint unser eigentlicher Tag? In der inneren Heimat oder nirgends. Wie der wachsende Menschenkeim in dem umhüllenden mütterlichen Fruchtwasser, so wohnt und reift unsere Seele in einem von oben mitgebrachten Element, das sie schützend und absondernd umgibt. Woraus es besteht, ist uns selber nicht bekannt. Es wirkt nur als Gewähr einer höheren Verwandtschaft und als tröstliches Gefühl ihrer Nähe. Aber die äußere Entsprechung dafür wäre mehr, als der Mensch an Glück ertrüge, darum müssen den Tiefsten ihre irdischen Freuden immer aufs neue genommen werden.
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Ich verbrachte immer noch meine Tage auf der Biblioteca nationale, wälzte Folianten und häufte Auszüge auf Auszüge. Denn je weiter ich kam, desto mehr begriff ich, dass genug noch nicht genug war, und dass man ein Menschenleben über diesen Studien verbringen konnte. Die Bibliothekare gingen mir freundlich zur Hand, wenn sie mich so unentwegt meinen Platz am Damentisch einnehmen sahen, wo sonst nur ab und zu ein junges Mädchen auftauchte, schnell einen heimlichen Brief hinkritzelte und wieder verschwand. Pasquale Villari, der angesehene Historiker, dem ich zuweilen im Haus Guerrieri begegnet war, las in der Sapienza öffentlich über diese Gegenstände, und ich schrieb gewissenhaft nach, hatte aber nicht viel Gewinn davon, denn was er las, war mir sachlich schon bekannt, zum Teil aus seinen eigenen Werken, und mit seinen etwas bürgerlich-moralischen Maßstäben befand ich mich nicht in Übereinstimmung: die überschauende Größe Burckhardts ließ mich das Außerordentliche jener Zeiten und Menschen doch in anderem Lichte sehen. So fühlte ich mich mit meinem Text nur langsam vorwärts. Ich war meinem abwesenden Mitarbeiter dankbar, dass er mich nicht drängte. In dem Sommer, der auf unseren Hauskauf folgte, kam er nicht nach Florenz; seine Briefe enthielten wieder viel Missmut und Weltverneinung unter dunklen Andeutungen, die man auf schlechten Gesundheitszustand beziehen musste. Aber gemeinsame Bekannte wollten ihn in guter Verfassung gesehen haben; das brachte eine neue Unstimmigkeit in vieles andere Missstimmende, das schon in die Freudigkeit des ersten Anlaufs gefallen war. Auch das Mitgefühl für Ungreifbares war überdehnt, aber einen Zweifel an dem Fortgang der Zusammenarbeit ließ ich nicht in mir aufkommen: indem ich unbeirrt das meine tat, glaubte ich mir ein Recht auf das Gelingen verbürgt.
Die heißen Tage verlebte ich wieder in San Terenzo am Fuß des alten Felsenkastells in den köstlich urtümlichen Verhältnissen meines alten Seemanns Giacomino, der mich wie ein Vater umsorgte, wie ein Mädchen für alles bediente, auf den Fischfang mitnahm und mir auf langen Bootsfahrten die bunten Matrosenabenteuer seiner Jugend erzählte. Ich habe damals dem vortrefflichen Mann und seinem ganzen Felsendorf, den grundeinfachen und grundehrlichen Dorfbewohnern, die nicht einmal Riegel an den Haustüren kannten, in den dort geschriebenen kleinen Meernovellen Frutti di mare3 ein Denkmal gesetzt, auf das er mit dem ganzen Ort stolz war. Doch den vollen Zauber jener Sommertage habe ich erst Jahrzehnte später in der Novelle »Die Allegria« aus bewegter Erinnerung zurückgespiegelt. Das freilich hätte mir nicht beikommen sollen, das zauberhafte Idyll, um das noch ein Laut von Shelleys dort gedichteter »Himmelslerche« schwebte, in viel späterer Zeit, nach mehr als vierzig Jahren wieder sehen zu wollen und zu finden, dass es unterdessen in Schmutz und Elend völlig ertrunken ist.
In jenem Sommer nun, von dem ich reden will, war ich sehr zeitig gekommen, und Mama, die sich selten eine Ausspannung gönnte, hatte die ersten vierzehn Tage in großer Glückseligkeit dort mit mir verlebt. Dann war ich allein in meinem hohen Turmzimmer zurückgeblieben, um das die Wellen brandeten und das mir bei Nacht, wenn das Meeresleuchten anhob, die Vorstellung eines zwischen zwei gestirnten Himmeln hinsegelnden Schiffes gab. In San Terenzo fand ich meinen alten Bekannten von Rimini her, den Senator Mantegazza wieder, der sich eine hochgelegene Villa über dem Meer gebaut und mit üppiger fremdländischer Flora umrahmt hatte; er sandte mir zuweilen Früchte und Blumen herüber. Kletterte ich in dem Felsengarten des alten Kastells herum, so kamen die zwei dort aufgestellten Marinesoldaten von ihren Posten herunter, gute große Kinder, und leisteten mir achtungsvolle Gesellschaft. Begab ich mich an die Marina, so ließ sich wohl dieser und jener von den Badegästen mir durch meinen Hauswirt vorstellen, und ich konnte sicher sein, dass er seine Leute kannte und nur vertrauenswürdige Personen in meine Nähe kommen ließ. Das Schönste aber war doch immer, mit meinen stillen Eingebungen, die niemand störte, sinnend und spinnend allein zu sein.
Jenes Mal aber sollte sich der Auszug nicht so friedlich gestalten, wie es der erwartungsfrohe Einzug gewesen. Gegen Ende August, als die Sommerfreuden der Badewelt auf ihrem Gipfel waren – ich nahm wenig teil daran, aber ich freute mich wenn die Tanzmusik an meinem Fenster heraufklang oder wenn ich des Nachts farbig beleuchtete Boote mit Gesang und Gitarrenklang vorüberfahren sah –, da griff ein furchtbares Gespenst herein. In dem benachbarten Spezia brach ganz plötzlich die Cholera, die schon seit längerer Zeit heimlich umherschlich, aber der Badegäste wegen vertuscht wurde, mit pestartiger Heftigkeit