Dr. Norden Staffel 2 – Arztroman. Patricia Vandenberg
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»Es gibt doch auch ein Leben neben der Medizin.« Tatjana wählte ihre Worte mit Bedacht. »Weißt du, ich hab auch mal gedacht, dass die Welt untergeht, wenn ich nicht mehr sehen kann. Eine Weile dachte ich sogar, dass ich überhaupt nichts mehr tun kann. Das war ein riesiger Irrtum, wie sich irgendwann zum Glück herausgestellt hat.« Tatsächlich hatte Tatjana Fähigkeiten und Talente an sich entdeckt, die sie als Sehende niemals wahrgenommen hätte. Davon berichtete sie ihm mit leiser Stimme.
Doch der junge Arzt wollte sich nicht trösten lassen. Am liebsten hätte er sich in seinem Weltschmerz vergraben. Er wollte nicht mutig und tapfer und optimistisch sein.
»Aber ich bin nicht du!«, herrschte er Tatjana ungehalten an. »Ein Leben ohne Medizin ist nicht lebenswert für mich. Schon klar, dass du das nicht verstehen kannst.«
Gefangen in seinem eigenen Leid bemerkte er nicht, wie sehr er sie mit seinen Worten verletzte.
Eigentlich hatte Tatjana ihm noch nichts von ihrem Beschluss sagen wollen. Sie hatte sich vorgenommen, damit zu warten, bis er wieder gesund genug war und an etwas anderes denken konnte. Doch dieser Vorsatz löste sich in diesem Augenblick in ihrer grenzenlosen Enttäuschung auf.
»Es tut mir leid, dass du das so siehst. Aber vielleicht hast du ja recht und ich bin wirklich nicht die richtige Frau für dich«, sagte sie leise und mit gesenktem Kopf. »Vielleicht brauchst du so eine Frau, wie dein Vater sie in deiner Mutter gefunden hat. Eine, die deine Leidenschaft für Medizin teilt und dich tatkräftig unterstützen kann. Das geht bei mir leider schon wegen meiner Behinderung nicht.« Tatjana seufzte tief und stand auf, während Danny noch versuchte zu verstehen, was sie ihm damit sagen wollte.
»Was redest du denn da?«, fragte er sichtlich verwirrt und plötzlich lammfromm. »Du bist die Frau, mit der ich zusammenleben möchte. Und zwar am liebsten, bis ich alt und grau bin«, versicherte er. »Wenn du das allerdings anders siehst …«
»So hab ich das nicht gemeint«, unterbrach Tatjana ihn an dieser Stelle forsch. »Ich wollte nur, dass du weißt, dass du nicht aus Mitleid mit mir zusammenbleiben musst. Wenn du festgestellt hast, dass du eine Frau brauchst, mit der du deine Leidenschaft für deinen Beruf teilen kannst, werde ich dich nicht zurückhalten.«
»Ach, das ist ja interessant.« Vor Überraschung stand Danny der Mund offen. Er konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, wie Tatjana auf so eine Idee kam. Krampfhaft suchte er nach Worten, mit denen er sie von ihrem Irrtum überzeugen konnte. Doch er war noch zu geschwächt von der Operation, als dass ihm etwas eingefallen wäre. So tat er das Einfachste, was ihm in dieser vertrackten Situation einfiel: Er schützte Müdigkeit vor und schloss die Augen. Gleichwohl wusste er, dass es zu diesem Thema zu gegebener Zeit noch jede Menge zu sagen gab.
*
Felix Norden machte sein Versprechen wahr und bat seinen Freund Eric, sich um Olivias Wagen zu kümmern. Der sagte sofort zu und verschwand schon am nächsten Nachmittag tief im Motorraum.
»Na bitte, schnurrt wie ein Kätzchen, das gute Stück«, stellte er zufrieden fest, als er sein Werk zwei Stunden später vollendet hatte.
»Du kennst dich echt gut aus«, erklärte Felix bewundernd. Wie bei einer Operation hatte er Eric assistiert und ihm die verlangten Werkzeuge gereicht.
»Nur bei diesen alten Dingern«, gab sich der junge Mann bescheiden, während er aufräumte und das Werkzeug mit ölverschmierten Fingern in den entsprechenden Koffern verstaute. »Die neuen Autos stecken voller Elektronik und sind so verbaut, dass man meistens noch nicht mal mehr eine Birne selbst wechseln kann.« Zufrieden klappte er den Deckel des Werkzeugkoffers zu und sah Felix herausfordernd an. »Wie wär’s mit ’ner kleinen Spritztour?«, fragte er unternehmungslustig.
Da Eric auf jegliche Bezahlung verzichtete, war Felix natürlich einverstanden. Er sagte seinem Vater schnell Bescheid – Daniel war inzwischen von der Klinik in die Praxis zurückgekehrt – und dann machten sich die beiden auf den Weg. Ihr erstes Ziel war das neue Zuhause von Olivia.
»Du hast die alte Karre tatsächlich wieder hingekriegt?«, freute sie sich, und ihre Augen hingen voller Bewunderung an Eric.
»Halb so wild«, winkte der sichtlich verlegen ab. Olivia war noch viel schöner, als er es aus Felix’ Berichten geschlossen hatte, und sofort hatte er einen Plan. »Da muss natürlich noch jede Menge gemacht werden. Wenn du willst, erledige ich das für dich«, bot er großzügig an, während er ihr die Beifahrertür aufhielt.
Felix, dem nicht entging, was sich zwischen den beiden abspielte, verzog sich grinsend freiwillig auf die Rückbank.
»Das wäre wirklich super von dir«, lächelte Olivia und machte es sich auf dem Beifahrersitz bequem.
»Abgemacht! Und jetzt zeigen wir dir mal ein bisschen was von deiner Wahlheimat«, versprach Eric und ließ den Motor an. Begleitet von munterem Plaudern ging die Fahrt zuerst durch die Innenstadt, vorbei an Friedensengel und Deutschem Museum, Bayerischem Landtag und Olympiastadion. Unter Felix’ fachkundigen Erklärungen lichteten sich schließlich die Häuserreihen und gaben bald den Blick frei auf das herrliche Voralpenland mit seinen Wiesen, Wäldern und Feldern. Im Hintergrund leuchteten die Berge im Abendrot.
»Sieht so aus, als würden sie brennen«, stellte Olivia zutiefst beeindruckt fest. So etwas Schönes hatte sie bisher noch nicht gesehen.
»Deshalb heißt dieses Phänomen ja auch Alpenglühen«, erklärte Felix bereitwillig. Seit sie die Stadt verlassen hatten, gab es nicht mehr viel zu erklären, und die drei schwiegen andächtig. Die herrliche Landschaft, die sanft geschwungenen, satt grünen Wiesen sprachen für sich. »Aber jetzt sollten wir langsam umkehren«, stellte Felix schließlich mit einem Blick auf die Uhr fest. »Sonst machen sich Mam und Dad noch Sorgen. Das können sie im Augenblick nicht brauchen.«
»Wie geht es denn deinem Bruder?«, erkundigte sich Olivia. Obwohl sie inzwischen wusste, dass sie unschuldig war an der Infektion, hatte sie trotzdem ein schlechtes Gewissen.
»Ach, Unkraut vergeht nicht«, bemerkte Felix leichthin, um die Sorgen zu überspielen, die auch er sich machte. »Der wird schon wieder.«
»Ein Glück!« Nur zu gern ließ sich Olivia beruhigen und lehnte sich im Sitz zurück.
Der Tag war lang und anstrengend gewesen, und alle drei hingen ihren eigenen Gedanken nach. Nachdem Eric zunächst Felix nach Hause gebracht hatte, verabschiedete er sich vor der Wohnung seiner Eltern von Olivia mit dem Versprechen, sie schon bald in ihrem Haus zu besuchen. Lange sah er ihr nach, ein glückliches Lächeln auf den Lippen, bis die Rücklichter in der Dämmerung verschwunden waren.
*
Auch Olivia hing ihren sehr angenehmen Gedanken nach, als sie durch die fremde Stadt fuhr und den Wagen schließlich vor dem Haus ihrer Mutter parkte. Sie hatte den Motor noch nicht abgestellt, als die Haustür aufgerissen wurde.
»Bist du noch ganz bei Trost!«, dröhnte eine zornige Stimme durch den Garten.
Zu Tode erschrocken starrte Olivia hinüber zum Haus und erkannte in der Dämmerung eine Gestalt, die auf sie zueilte.
»Wo hast du die ganze Zeit gesteckt, Fräulein?«, polterte Paul weiter, als er um den Wagen herumeilte und Olivia vom Fahrersitz zerrte.
»Hey, hey, hey, was soll denn das?«, rief sie verwirrt. Zu erschrocken, um sich zur Wehr zu setzen, ließ sie sich von ihrem Mitbewohner ins Haus ziehen.
Keuchend