Mord bei den Festspielen. Sibylle Luise Binder
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Ich hatte im Geist die ganze Zeit das Szenario in der letzten Nacht durchgespielt. Miercoledi und die Seinen waren noch im Straßencafé gesessen, als wir gegangen waren, aber ich erinnerte mich, ihre Stimmen auf dem Flur gehört zu haben, als ich im Bad die Zähne geputzt hatte. Da waren sie heimgekommen und da war es Miercoledi offenkundig noch gut gegangen.
Wann nach dem Heimkommen war er schlafen gegangen? Und was war dann passiert? War ihm übel geworden? Aber warum hatte er nicht gleich um Hilfe gerufen? Es war doch nicht so schlimm gewesen, dass er das nicht mehr geschafft hätte, denn schließlich war er aufgestanden … oder war er aufgestanden, um Hilfe zu holen und auf dem Weg zur Tür zusammengebrochen? Aber warum hatte er nicht gerufen? Oder hatte er gerufen und niemand hatte ihn gehört?
Ich versuchte, mir den Grundriss der Suite vorzustellen. Wie die unsere hatte sie einen Vorraum, von dem aus es in eine kleine Küche ging, dann kam man durch eine Doppeltür in den großen Salon. In dem war links und rechts je eine Tür. Die linke führte in Miercoledis Schlafzimmer, die rechte in das seiner Frau. Die dazu gehörigen Badezimmer waren jeweils durch die Schlafzimmer erreichbar. Die Töchter wohnten nebenan beziehungsweise gegenüber. Insofern war erklärbar, dass sie nichts gehört hatten. Zwischen Miercoledis Schlafraum und Mariettas Zimmer gegenüber lagen immerhin ein Bad, die Küche, der Vorraum und der Flur. Und Mafalda wohnte im Zimmer hinter ihrer Mutter, also mindestens genauso weit weg. Aber Giulia – sie hatte nur den Salon zwischen ihrem und dem Zimmer ihres Mannes! Und das Hotel war ein Altbau und, wie wir in den letzten Tagen zu spüren bekommen hatten, doch eher hellhörig. Wir hatten jedenfalls mitbekommen, wenn Familie Miercoledi sich im Salon angebrüllt hatte.
Andererseits war Miercoledi angeschlagen gewesen und hatte darum wahrscheinlich nicht so laut geschrien wie am Vortag beim Familienstreit.
Es klopfte zum zweiten Mal – der Hotelmanager, trotz Sonntagmorgen und Sommer schon im dreiteiligen dunkelblauen Anzug mit gestreiftem Hemd und Krawatte, segelte in Begleitung eines verschlafen wirkenden, unrasierten Mannes in einer abgewetzten Cordhose und einem verwaschenen Polohemd, der einen großen schwarz-orangen Rucksack in der Hand trug, in die Suite. Der Manager drückte Lucas die Hand und deutete eine Verbeugung an, dann küsste er Giulia die Hand, murmelte etwas von Bedauern und Beileid, auch in Richtung der Töchter, und stellte seinen Begleiter als Doktor Hartmann vor.
Der grunzte in die Runde, dann schob er sich zum Tisch. »’tschuldigung«, brummte er. »Ich habe Wochenenddienst und war die halbe Nacht unterwegs. Kann ich erst mal einen Kaffee haben?« Weil sich sonst niemand rührte, stand ich auf und schenkte ihm einen Kaffee ein, was er mit einem munteren »Ich bin ein Süßer, ich nehme Milch und dreimal Zucker!« kommentierte.
Während der Arzt in aller Gemütsruhe seinen Kaffee trank, unterhielt sich Lucas leise mit dem Hotelmanager. Ich spitzte die Ohren und schnappte auf, dass der Hotelmanager davon sprach, den Bestatter anzurufen – ihm ging es natürlich darum, die Leiche so schnell und diskret wie möglich aus dem Haus schaffen zu lassen. Lucas bremste ihn – er solle doch bitte erst einmal abwarten, was der Arzt sage.
Der hatte mittlerweile seinen Kaffee getrunken und stand mit einem Seufzen auf. »Tja – wo liegt der Mann?«
Lucas deutete auf die Tür. »Brauchen Sie jemanden dazu?«
»Falls ich jemanden brauche, kann ich ja rufen!« Der Arzt schleppte seinen Rucksack zur Tür und verschwand dahinter.
Wir warteten schweigend, wobei der Hotelmanager nervös auf und ab ging, während Lucas zu mir getreten war und mir die Hand auf die Schulter gelegt hatte. Eine ganze Weile lauschten wir auf die leisen Schritte des Arztes, hörten etwas klappern, dann das Geräusch eines Reißverschlusses. Mafalda begann zu weinen, Lucas machte einen Schritt nach vorne und streichelte über ihr Haar. »Ja, Mafi, das ist schlimm …«, sagte er leise.
Endlich kam der Arzt aus dem Zimmer, schloss die Tür hinter sich, zog die Gummihandschuhe aus, sah sich um und ließ sie dann in einen Papierkorb fallen. Er ging zum Tisch und griff nach der Thermoskanne. »Ich krieg noch einen Kaffee, ja?« Ohne eine Antwort abzuwarten, nahm er sich eine frische Tasse, schenkte ein und gab Milch und Zucker dazu.
Lucas hatte sich wieder aufgerichtet. In seiner Stimme klirrte Eis, als er fragte: »Haben Sie uns nicht etwas zu sagen?«
Der Arzt trank einen Schluck Kaffee, öffnete dann seinen Rucksack und begann, darin zu wühlen. Schließlich legte er eine zerknautschte Mappe vor sich, hob den Kopf und schaute Lucas an: »Was soll ich sagen? Der Mann ist tot – und das wahrscheinlich schon seit vier, fünf Stunden. Auf jeden Fall kann ich ihm nicht mehr helfen.« Er zog ein Formular und einen Kugelschreiber aus der Mappe, dann wandte er sich an Giulia. »Ich nehme an, Sie sind die Witwe?« Er wartete nicht auf eine Antwort. »Herzliches Beileid. Aber Sie wussten, dass Ihr Mann Probleme mit dem Herzen hatte?«
Lucas schaltete sich ein. »Woher wollen Sie das wissen? Haben Sie ihn daraufhin untersucht?«
Der Arzt war damit beschäftigt, das Formular auszufüllen. Ohne den Blick zu heben, sagte er: »Auf dem Nachttisch lagen Herzmedikamente – ziemlich harter Stoff.« Er kritzelte etwas auf sein Formular, dann fragte er in die Runde: »Kann ich mal seinen Pass haben?«
Einen Augenblick herrschte Verwirrung. Giulia schluchzte noch einmal auf, Mafalda ging zögernd in Richtung der Tür zum Zimmer ihres Vaters, Marietta unterdessen trat an den Sekretär und zog die Schublade auf. Sie sagte etwas Italienisches zu ihrer Schwester, dann nahm sie den Pass aus der Schublade und reichte ihn dem Arzt. Dann blieb sie neben Lucas stehen und sagte: »Lucas, unser Vater hatte vor drei oder vier Jahren einen Herzinfarkt. Er wollte aber nicht, dass jemand davon erfährt. Du weißt doch: Krank zu werden ist ganz mies für die Karriere.«
Und für die Eitelkeit, setzte ich im Geiste dazu. Miercoledi hatte doch immer versucht, sich ungeachtet seines Alters als Sportler und wahrer Supermann zu präsentieren. Ich erinnerte mich an die Fotos, die er in den sozialen Medien veröffentlicht hatte: Miercoledi ganz in Weiß mit Schweißband um die Stirn auf dem Tennisplatz; Miercoledi in Badehose und Schutzweste auf dem Jetski; Miercoledi mit Töchtern beim Skifahren; Miercoledi im Dress des AC Florenz bei einem Fußball-Charity-Match.
Je länger der Arzt am Formular schrieb, desto neugieriger wurde ich. Schließlich konnte ich nicht mehr widerstehen. Ich ging zum Tisch, schenkte mir auch einen Kaffee ein und schielte über die Schulter des Doktors auf das Papier. Es erinnerte mich mit seinen grau-weiß unterlegten Kästen an eine Steuererklärung, nur dass in dem obersten Kästchen »Totenschein« stand. Darunter kamen die persönlichen Angaben für Miercoledi, Guido Mario Michelangelo. Mein Blick fiel auf »Geburtsdatum«. Wie Lucas gesagt hatte: Miercoledi hatte in den letzten Jahren bezüglich seines Geburtsdatums geschummelt. Er hatte vor ein paar Tagen angekündigt, dass er in Kürze eine große Party zu seinem 75. Geburtstag schmeißen werde. Doch nun hatte der Arzt das Geburtsdatum aus dem Pass eingetragen: 24. August 1935. Also war Miercoledi 83 gewesen.
Bei »Identifikation« hatte der Doktor zwei Kästchen angekreuzt: »Nach Pass« und »Nach Angaben von Angehörigen/Dritten«. Darunter kam unter »Todesort« Name und Anschrift unseres Hotels und unter »Totenzeitpunkt« stand »circa vier Uhr«.
Zwei Zeilen tiefer wurde nach der »Todesart« gefragt. Da hatte der Arzt »Natürlicher Tod« angekreuzt.
Ich hatte gar nicht bemerkt, dass ich beim Lesen die Luft angehalten hatte. Es fiel mir erst auf, als ich mich bei einem erleichterten Ausatmen erwischte. Ich stellte die halbvolle Tasse ab – der Kaffee war inzwischen lauwarm und schmeckte abgestanden – und ging zu Lucas, der sich in einem Sessel niedergelassen hatte. Ich klemmte mich auf die Lehne und legte meinen Arm um seine Schulter, wofür