MAGNETSTURM. T. H. Isaak
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«Ja, im Universitätsklinikum.»
Traianos blickt verwundert auf.
«Im Originalzustand. Die Autopsie hat noch nicht stattgefunden», präzisiert Pavlides.
«Gut. Ich nehme an, Sie haben die kriminaltechnischen Untersuchungen hier vor Ort angeordnet.»
«Selbstverständlich.»
«Entáxi. Dann lassen Sie uns ins Krankenhaus fahren. Hier können wir ohnehin nichts mehr tun. Die Beamten vom Flugunfall-Büro, einer meiner beiden Untersuchungsrichter und Ihre Spezialisten sollen mit den Untersuchungen zur Sicherstellung des Beweismaterials beginnen. Ich möchte nun gerne Nassios’ Leiche sehen. Und hernach den Überlebenden etwas Mut zusprechen. Páme, gehen wir!»
Befragung
Kurz nach acht Uhr morgens sitzen Traianos, Pavlides und Livanou am Frühstückstisch im Hotel Nefeli, unweit des Universitätskrankenhauses an der Verbindungsstrasse zwischen Komotini und Alexandroupolis. Das Hotel ist ein komfortabel eingerichtetes Haus mit bequemen Betten, auf die sie sich um drei Uhr morgens ausgelaugt gestürzt haben. Staatsanwalt Traianos wollte nach dem nächtlichen Besuch der aufgebahrten Leichen und der kurzen Stippvisite bei den Verletzten nicht mehr in die Stadt hineinfahren, sondern sich in der Nähe ein Zimmer suchen. Um frühmorgens gleich wieder die Arbeit aufnehmen zu können. Eine erste Befragung des Piloten steht an. Um zehn Uhr wird Verteidigungsminister Aris Asimoglou aus Athen erwartet. Und um zwölf Uhr ist eine Pressekonferenz anberaumt, zu der zahlreiche Medienvertreter aus dem In- und Ausland erwartet werden. Nicht hier, sondern im luxuriösen ‚Astir Egnatia’, mitten in der Stadt. Für Asimoglou muss das Ambiente repräsentativ sein.
Die Stimmung ist gedrückt, was einerseits am Schlafmanko liegt, andererseits an den tragischen Umständen, die es aufzuklären gilt. Livanou hat sich am Frühstücksbuffet bedient und setzt sich neben Pavlides. Den Blutzucker hat sie sich schon im Zimmer gemessen und zwölf Einheiten Insulin gespritzt. Das Frühstück ist ihre wichtigste Mahlzeit. Man sieht’s: Zwei Croissants, Butter, Orangen- und Sauerkirschen-marmelade, griechisches Joghurt mit Fruchtsalat, Walnüssen und Honig. Dagegen fällt Pavlides’ Frühstück mager aus: Zwei trockene Koulourákia und ein starker Kaffee, métrios. Dazu eine Sourotí. Anregendes, erdig-metallisch schmeckendes Mineralwasser.
Staatsanwalt Traianos schaut verwundert auf Livanous Teller.
«Diabetes», meint diese beiläufig und nimmt einen Schluck Kaffee. Dieser allerdings ist ungesüsst. So hat sie ihn am liebsten. «Typ 1. Insulinpflichtig. Habe schon gespritzt.»
«Oh», meint Staatsanwalt Traianos, «ich bin auch Diabetiker. Alterszucker, allerdings. Ein Erbstück. Im Vergleich zum Aufwand, den Sie betreiben müssen, ist meine Zuckerkrankheit jedoch kaum der Rede wert. Ich schlucke für meinen Zucker zwei Tabletten pro Tag, und damit hat es sich. Wie viele Male spritzen Sie Insulin, wenn ich das fragen darf?»
«Vier Mal. Aber es ist nur halb so schlimm. Man gewöhnt sich daran.»
«Ich bewundere Sie. Mit welcher Leichtigkeit Sie Ihr Los tragen. Mein Arzt hat mir gesagt, dass jeder Altersdiabetiker im Schnitt vierzehn Jahre nach der Diagnosestellung spritzen muss. Anfangs graute mir vor dieser Vorstellung. Aber ich bin inzwischen so alt, dass ich nunmehr glaube, dass ich das Zeitige segnen werde, noch bevor es so weit kommt.»
«Womit wir beim Thema Tod angelangt sind», mischt sich Pavlides ein, im Bemühen das Gespräch in andere Bahnen zu lenken. Er weiss nur zu gut, dass Livanou es leid ist, dauernd über ihre Krankheit sprechen zu müssen. Besonders zu Tisch. Sie lebt mit ihrem Diabetes und fertig. Zudem gilt es jetzt einige wichtige Absprachen zu treffen. «Werden Sie bei der Autopsie von Kranidakis dabei sein?»
«Nein. Ich hoffe Sie verstehen, dass ich mir das nicht antun kann. Aber natürlich haben Sie recht. Jemand von meinem Team wird dabei sein müssen, und zwar ist das Spiropoulos, mein Adjutant. Ein tüchtiger, junger Untersuchungsrichter. Er soll Ihrem Herrn Patsis zur Seite stehen. Das Programm ist gedrängt. Wir beide müssen Asimoglou zu Verfügung stehen.» Schluck Kaffee. «Wenn er um zehn Uhr am Flughafen ankommt, wird er um halb elf im Krankenhaus sein. Dann will er natürlich die Hand des Piloten schütteln und seine mitgebrachten Pressevertreter diese Tat fotografieren lassen. Erfahrungsgemäss braucht es etwas Zeit, bis er mit einem Bild soweit zufrieden ist, dass es veröffentlicht werden darf.» Traianos nimmt einen Löffel Müsli. «Sie schütteln jetzt vielleicht den Kopf, Herr Pavlides. Aber glauben Sie mir: Ich kenne den Herrn Verteidigungsminister. Sie werden schon sehen.»
Das Krankenhaus ist auf dem neuesten Stand. Die modernste Universitätsklinik im ganzen Land. Chirurgischorthopädische Klinik. Intermediate-Care-Abteilung. Ein Zwischending. Nicht ganz Intensivstation, nicht ganz Bettenstation. Maximal eine Stunde, meint der zuständige Oberarzt, als sich Pavlides und Traianos mit Gefolge erkundigen, ob eine erste Befragung des Piloten möglich sei. Er steht unter Schock und hat starke Beruhigungsmittel bekommen. Den Leibwächter werden sie heute nicht befragen können. Er wird gerade operiert. Unterschenkelfraktur und irgendwelche Gesichtsschädelfrakturen. Man hat sich für ein gleichzeitiges Vorgehen entschieden, der Kieferchirurg und der Orthopäde.
«Guten Morgen, Herr Marangos, können Sie sich an mich erinnern?» fragt Traianos und beugt sich, in einen weissen Einwegkittel gehüllt, über das Bett des Piloten.
Dieser sieht alles andere als gut aus. Kleine Pupillen, hohler Blick, wächserne Hautfarbe, ungekämmte Haare, verkrusteter Speichel am Mundwinkel. Aber immerhin keine Spur von Anspannung oder Verkrampfung. Ruhig liegt er da. Doch wohl kaum friedlich, denn in seinem Gehirn scheint es zu rattern. Ganz der pflichtbewusste Kapitän. Keine Schwäche zeigen. Er will die Frage des Staatsanwaltes beantworten, aber er kann es einfach nicht. Nein, zu diesem Gesicht hat er keine Assoziationen. Wie denn auch? Schon dutzende Köpfe haben sich im Verlaufe der letzten zehn Stunden über ihn gebeugt. Ihm Fragen gestellt. Tut’s hier weh? Oder da? Schauen Sie mal auf die Decke, ich prüfe jetzt Ihren Pupillenreflex. Ja, so ist’s gut. Versuchen Sie, etwas zu schlafen. Hier, nehmen Sie diese Tablette.
«Nein? Keine Erinnerung? Ich bin Staatsanwalt Miltiades Traianos und der Herr neben mir heisst Nikos Pavlides. Er ist Direktor der Kriminalpolizei von Thessaloniki. Wir wollen Ihnen einige Fragen stellen. Fühlen Sie sich im Stande, diese zu beantworten?»
Das macht er ganz geschickt, der Staatsanwalt. Natürlich ist jeder Militärpilot davon überzeugt, jederzeit imstande zu sein, eine Aufgabe, die von ihm verlangt wird, zu lösen. Einen Befehl auszuführen. Wie erwartet nickt Marangos.
«Können Sie uns erzählen, was genau gestern passiert ist? Und wieso Sie nun hier liegen?»
Eine erste offene Frage, die darauf abzielt, die Orientierung des Patienten zu überprüfen. Oder des Zeugen. Je nach Standpunkt. Falls Marangos nun irgendetwas Unzusammenhängendes von sich geben sollte ohne jeglichen Bezug zur fraglichen Situation, kann man die Übung gleich abbrechen. Und warten, bis die Wirkung der Medikamente nachgelassen hat. In der Hoffnung, es seien nur die Pillen, die sein Gedächtnis getrübt haben.
«Wir waren auf dem Flug nach Moskau», fängt der Pilot an zu erzählen. Leise, bedächtig, aber dennoch geistig präsent, wie es scheint. Die Ereignisse tauchen allmählich vor seinem geistigen Auge auf.
«Der Autopilot war eingeschaltet. Flughöhe dreiunddreissig tausend Fuss. Das sind etwa elftausend Meter. Es war bereits dunkel. Vor der bulgarischen Schwarzmeerküste. Zirka 20 Meilen östlich von Varna.»
«Gut, gut, erzählen