Grimmelshausen. Dieter Breuer

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Grimmelshausen - Dieter Breuer

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daß dieses gleiche Recht nur eine Funktion des (Geld) Vermögens sein kann. Ist diese Bedingung erfüllt, dann ist, wie er resümierend feststellt, ein herrschaftsfreies Zusammenleben möglich:

       Haben also der edel Proximus und seine vnvergleichliche Lympida an disem Ordt eine ihrem Sinn vnd Humor nach/allerbequembste Statt gefunden/allwo sie geruewiglich beydes Gott vnd den Menschen: den Armen privat Persohnen vnd dem gemeinen Wessen dienen konden/wo sie weder mit Regierung über andere sich bemühen dörffen noch mit vnderthänigen Diensten einem tyranischen Gewalt zugehorsammen gezwungen waren […]. (142)

      Daß Grimmelshausen hier keine Staatsutopie skizzieren will, sondern in den realen politischen Verhältnissen der Republik Venedig eine Alternative zur absolutistischen Staatsform erblickt, geht auch daraus hervor, daß er abschließend das Venedig seiner Histori in das Venedig der zeitgenössischen staatstheoretischen Diskussion überführt. Er belegt seine Auffassung mit einem Zitat aus dem Venedig-Kapitel in Georg Hornius’ Orbis politicus (1669). Für den Staatsrechtler Hornius aber ist die Republik Venedig103

       ein vollkommenes Muster einer allervollkommenesten Republique/und könnte von Menschlichem Verstande nichts ersonnen werden/was Solche nicht allbereit beobachtet und ihr zu Nutze gemacht hätte: Je näher nun eine jede Republique der Venetianischen kommet/ie vollkommener sie zuhalten ist.

      Hornius steht mit dieser Auffassung nicht allein. Abgesehen davon, daß der Venezianer Garzoni als ein Gegner der absoluten Erbmonarchie bei all seiner Ausgewogenheit in der Darstellung politischer Sachverhalte die „Venedische Republica“ als vorbildlich rühmt,104 kann sogar Contzen, der rigorose Verfechter der absoluten Monarchie, die Vorzüge dieser Republik nicht in Abrede stellen und muß die Republik Venedig zumindest als Ausnahme gelten lassen.105

      Ein Vergleich mit diesen und anderen staatstheoretischen Quellen macht deutlich, daß Grimmelshausen auch in den Einzelheiten seiner Venedigdarstellung sehr genau informiert ist, so etwa hinsichtlich der patriotischen ratio status, des Staatsschatzes, der Nobilitierung aufgrund des Vermögens, der ungestörten Religionsausübung bei grundsätzlich römisch-katholischer Staatsreligion, der im damaligen Europa als vorbildlich geltenden sozialen Einrichtungen. Noch im frühen 18. Jahrhundert gilt aus ebendiesen Gründen die Republik Venedig „als ein Wunderwerck und rechtes Muster von einer wohlbestellten Policey“, als „herrlichste und berühmteste“ Republik in Europa.106

      Dennoch wird man Grimmelshausen in dieser Frage noch nicht als Vertreter des frühaufklärerischen Staatsdenkens bewerten dürfen. Er bleibt bei der älteren theologisch fundierten Staatsauffassung. Es hat seine Entscheidung für die republikanische Alternative zur absolutistischen Staatsform sicherlich erleichtert, daß er auch diese Alternative theologisch begründen kann. Wie aus den Schlußsätzen der Histori hervorgeht, verweist ihn die Republik Venedig auf die christliche Utopie des „Himmlischen Jerusalem“, dessen „Bürger vnd ewige Inwohner“ ebenfalls keiner Herrschaft mehr unterworfen sind. Seine sarkastische Kritik am Absolutismus französischer Provenienz am Schluß des Rathstübel Plutonis107 versteht sich von diesen Ergebnissen seines politischen Nachdenkens her fast von selbst.

      I

      Mit Verwunderung nimmt der Literarhistoriker wahr, daß kaum eine Darstellung des Dreißigjährigen Krieges sich nicht auf Grimmelshausens Kriegsschilderungen im Simplicissimus Teutsch beruft108. Die Plünderung des Spessarter Bauernhofs durch marodierende Soldaten, das wüste Leben in der Hofhaltung des Hanauer Militärgouverneurs, die Beutezüge der kroatischen Reiterabteilung, die blutige Schlacht von Wittstock, das Hungerleben in der Garnison Philippsburg – all das ist so detailliert und scheinbar so authentisch, so naturäl, so vollkommen geschildert109, daß man den Autor mit einem Kriegsberichterstatter verwechselte und nicht bedachte, daß er stofflich aus den bekannten Kriegschroniken schöpfte110 und im Erzählverfahren engen Anschluß an den derzeit modernen realistischen roman comique suchte, wie ihn Scarron und Sorel aus dem Picaroroman musterhaft entwickelt hatten111. Die eigene fünfzehnjährige Militärzeit hat dagegen, wie schon Könnecke gezeigt hat, kaum Eingang in die Kriegsdarstellung des Simplicissimus Teutsch, der Courasche und des Springinsfeld gefunden112. Wenn der Autor eigene Erfahrungen erzählt, dann noch am ehesten in der Kurzform der Geschichten oder Datumsnotizen seines Ewigwährenden Kalenders, darin den begrenzten Mitteilungsmöglichkeiten der Autobiographen seines Jahrhunderts ganz ähnlich113. Dem Autor liegt offenbar mehr an der exemplarischen Darstellung kollektiver Erfahrungen, nicht individuellen Erlebens. So gibt er für die eindrucksvolle Darstellung des Überfalls der Soldaten auf den Spessarter Bauernhof des Knan (ST I, 3–5) und das Spessartdorf (ST I, 13–14) das literarisch vermittelte exemplarische Deutungsmuster gleich selbst an: die Illustration zum Buch Hiob aus der Lutherbibel114. Der vermeintliche Erlebnisbericht über die Schlacht von Wittstock (ST II, 27) ist inzwischen als geschickte, satirische Distanz schaffende Übernahme einer Schlachtbeschreibung aus Sir Philip Sidney’s Roman Arcadia (1590) in der deutschen Übersetzung von Hirschberg und Opitz (1629/38) erkannt worden115. Die Perspektive, aus der die erfahrene Welt gedeutet wird und die wir in allen Schriften des Autors wiederfinden, ist die der Verkehrtheit der Welt. Folgt man der dritten Kalendergeschichte, dann muß ein illustrierter Einblattdruck zum Thema „Verkehrte Welt“, den der siebzehnjährige Musketier im schwäbischen Winterquartier 1638/39 an der Wand einer Kunkelstube entdeckte, so etwas wie ein literarisches Schlüsselerlebnis bewirkt haben116:

       Zuvor hatte ich die verkehrte Art der Welt wenig beobachtet/und noch weniger daß ich selbst mit interessirt wäre; […] Derowegen setzte ich mir vor/ich könnte alle dergleichen Posten so die verkehrte Welt verfügen würde/hinfüro genaw beobachten; umb mich darauß zubessern und meinen wenigen Verstandt zu schärpffen […].

      Dies gilt jedenfalls auch für die Kriegsdarstellung im simplicianischen Erzählzyklus; sie ist, ob auf eigene Erfahrung oder Lektüre zurückführbar, immer schon exemplarisch als Erscheinung der Verkehrtheit der Welt gedeutet und in die satirische Perspektive gerückt. Niemals verselbständigt sich die Darstellung des Krieges, niemals ist sie so angelegt, daß sie irgendwelche heroischen Gefühle hervorrufen könnte. Das satirische Erkenntnis- und Darstellungsmodell der „verkehrten Welt“ schließt jegliche Verherrlichung kriegerischer Taten und Tugenden aus. Und wenn Grimmelshausen, zu Beginn seiner ersten Schrift, des Satyrischen Pilgram, sich seiner satirischen Erzählerrolle begibt und eine eigene Lebenserfahrung unvermittelt preisgibt, dann die, daß er als ein vom Krieg nachhaltig Geschädigter und um seine Bildungschancen Betrogener diese Erfahrung anderen ersparen will117:

       Betreffend meiner Person Wenigkeit/daß ich nehmlich nichts studirt, sonder im Krieg uffgewachsen/und allda wie ein anderer grober Esel keine Wissenschafften/gefast habe/dahero auch nicht genugsamb seye Bücher zu schreiben […]; solches ist niemand leider als mir; Aber da wisse du und deinige/daß ich mich vor keinen Doctorem außgebe/zumahlen mir nichts destoweniger zu einiger Schand nicht gereichen könnte/daß ich die Gelegenheit/darhin zu gelangen nicht haben mögen; sondern vielmehr zu Ehren dienet/daß dennoch mit dem wenigen so ich erfahren/meinem Nebenmenschen zu dienen begehre.

      Erklärtes Ziel des Autors ist es hier und anderwärts, die eigenen, so sauer erworbenen Lebens- und Leseerfahrungen in den Dienst des „Nebenmenschen“ zu stellen: „Schrei: Irrender steh still“118. Dies gilt insbesondere für seine Erfahrungen des Teutschen Krieges; er selbst deutet sein Hauptwerk, den Simplicissimus Teutsch, im letzten Kapitel des Satyrischen Pilgram ausdrücklich als Antikriegsschrift und empfiehlt es den „jungen Schnautzhahnen“, die nach zwanzig Friedensjahren gerne einen Krieg sähen, zur Lektüre. Er tut dies indes, und darin liegt die im folgenden zu zeigende Besonderheit des Simplicissimus Teutsch, von den Voraussetzungen seines Erkenntnismodells „Verkehrte Welt“ aus und mit Vorbehalten gegenüber der erasmianischen oder wiedertäuferischen Tradition des christlichen Pazifismus119.

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