Die Todesstrafe II. Jacques Derrida
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2. Zweites Motiv: Es gibt noch ein anderes Motiv, ich hatte es angekündigt, das ich, sehr kurz, in Benjamins Text situieren möchte, den ich Ihnen im Übrigen zur nochmaligen Lektüre empfehle. Wir wollen es „die begründende Ausnahme oder das ausgeschlosseneingeschlossene-Transzendentale“ nennen. Es handelt sich in Wirklichkeit um die Konsequenz aus dem, was wir gerade analysiert haben. Sie berührt aber direkt die Todesstrafe, während Benjamin bislang nur von der Monopolisierung der Gewalt durch das Recht und die heimliche Bewunderung für den großen Verbrecher sprach. Wenn er, vier oder fünf Seiten weiter, die Todesstrafe diesmal beim Namen nennt, tut er das im Rahmen einer Überlegung, die sowohl an Kant erinnert (der die Todesstrafe als Ursprung und Möglichkeit selbst des Rechts rechtfertigt), als auch die Notwendigkeit dieser Kantischen Logik in eine Geschichte einschreibt, die es vielleicht erneut in Frage zu stellen gilt (ausgehend von Benjamin’schen Schemata, die die mythische Gewalt des griechischen Rechts der göttlichen Gewalt jüdischen Typs gegenüberstellen, und die rechtsgründende Gewalt von der rechtserhaltenden Gewalt des Rechts unterscheiden, vgl. Gesetzeskraft36). Die rechtserhaltende Gewalt, so bemerkt Benjamin, wird als bedrohlich empfunden, und es ist diese Drohung, angesichts derer man gegen die Todesstrafe protestiert. Sobald das positive Recht in Frage gestellt wurde, war die Todesstrafe dabei das am stärksten Kritisierte. Die Argumente dieser Kritik, merkt Benjamin an, gingen der Sache jedoch nicht auf den Grund, sie waren in den meisten Fällen wenig „grundsätzlich*“; in der Kritik der Todesstrafe war man immer oberflächlich. Wenn auch die Argumente der Sache nicht auf den Grund gingen, so wurde doch das, worum es ging, gut ins Visier genommen, und zwar prinzipiell. Und das wie folgt: Ebenjene, die die Todesstrafe attackierten, ohne zu grundsätzlichen Argumenten in der Lage zu sein, spürten sehr wohl, dass sie, indem sie die Todesstrafe attackierten, nicht eine Bestrafung oder ein Gesetz unter anderen attackierten, sondern „das Recht selbst in seinem Ursprung“37. Dieser Ursprung ist eine Gewalt, eine vom Schicksal gekrönte Gewalt (schicksalhaft gekrönte Gewalt*). Daher besteht einiger Grund zu der Annahme, dass sich „in der höchsten Gewalt“, jener, die darin besteht, in der Ordnung des Rechts über Leben und Tod des Rechtssubjekts zu verfügen, die Ursprünge dieser Ordnung auf ebenso präsente wie furchtbare Weise manifestieren. Mit anderen Worten: Die Todesstrafe ist das, was den Ursprung und das Wesen des Rechts, das heißt die Gewalt, in herausragender Weise offenbart, wenn man so sagen kann. Wenn man zum Tode verurteilt, sanktioniert man nicht dieses oder jenes Delikt, sondern bekräftigt – auf disproportionale Weise – von Neuem die Notwendigkeit des Rechts und seiner Gewalt. Zum Tode verurteilen, das heißt nicht, diese oder jene Verfehlung zu bestrafen, sondern das heißt, das Recht auf das Recht, das Recht auf die Gewalt des Rechts zu setzen. So bestrafte man zum Beispiel „in primitiven Rechtsverhältnissen“, so Benjamin, das geringste Eigentumsdelikt „ganz außer ‚Verhältnis‘“38 mit dem Tode; ebendies machte deutlich, dass es nicht darum ging, diese oder jene besondere Verletzung des Rechts zu sanktionieren oder zu bestrafen, sondern das Recht erneut zu bekräftigen oder wiederherzustellen, wie auch ein neues Recht zu etablieren. Jedes Mal, wenn man mit dem Tode bestraft, erfindet man das Recht neu. Indem es die Gewalt über Leben und Tod ausübt, „bekräftigt das Recht sich selbst“, „mehr als in irgendeinem andern Rechtsvollzug“39. Dieses „mehr als“, dieses „am meisten“, diese Hyperbel, dieser Gipfel des Komparativs oder dieser Superlativ in der Argumentation Benjamins ist interessant. Denn es gibt zu denken, dass die Todesstrafe zwar die Bestrafung par excellence ist, gleichzeitig aber, da weniger dazu bestimmt, dieses oder jenes Delikt, diese oder jene Verletzung dieses oder jenes Gesetzes zu bestrafen, als vielmehr dazu, das absolute Recht auf das absolute Recht zu bekräftigen, dass diese höchste Strafe in Wirklichkeit keine Strafe ist; das ist keine Strafe unter anderen, sie steht nicht im Verhältnis zum Maß des Delikts – wie bei einer Verteilungsgerechtigkeit oder einer Abschreckungsjustiz. Ihre Unverhältnismäßigkeit, ihr „ganz ‚außer Verhältnis‘“ nimmt sie vom Bereich der Bestrafung aus. Bevor wir dieses Argument bis zu seiner äußersten Konsequenz treiben, die darin bestünde, zu sagen, dass die Todesstrafe40 keine Bestrafung, keine Art aus der Gattung Bestrafung beziehungsweise kein Fall von Bestrafung ist, wollen wir zunächst Folgendes sagen: Der absolute Verbrecher, der große oder sehr große Verbrecher, jener, welchen man mit der Todesstrafe zu bestrafen behauptet, hat nicht dieses oder jenes Verbrechen, ja diesen oder jenen Mord begangen. Er hat das höchste Verbrechen begangen, nämlich die Souveränität des Gesetzes absolut, womöglich auch noch souverän, zu überschreiten: Nicht dieses oder jenes Gesetz zu übertreten, sondern das Gesetz der Gesetze, das heißt das Prinzip selbst des Rechts, das dem Recht das Recht gibt, die Gewalt zu monopolisieren. Daher die Faszination für den großen Verbrecher, der nicht dieses oder jenes Gesetz übertritt, sondern das Prinzip selbst des Gesetzes überschreitet – und im Grunde genommen den Staat und die Politik, das Politische selbst. Das ist auch der Grund dafür, dass jeder große Verbrecher sogenannten gemeinen Rechts zunächst ein politischer Gefangener ist, politischer als jeder andere, da das, was er attackierte, die Möglichkeit, die Bewahrung, die Instanz des Politischen selbst ist, das soziale Band (das, was auch heimlich Liebende tun, die in dieser Hinsicht, zumindest in dieser Hinsicht, den großen Verbrecher[n]* vergleichbar sind). Wir wollen jetzt den Grund präzisieren, weshalb man, von diesem Standpunkt aus, der Ansicht sein könnte, dass die Todesstrafe keine Strafe, keine Bestrafung sei, dass es ein Missbrauch der Sprache ist, wenn man sie in die Kategorie der Bestrafung und also des Strafrechts einordnet.
Die Argumentation könnte hier drei Argumente umfassen, deren Logiken unterschiedlich wären, die aber alle auf