Die Todesstrafe II. Jacques Derrida

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Die Todesstrafe II - Jacques  Derrida Passagen forum

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Wir werden gleich sehen, welchen Inhalt man dem geben kann, was auf diese Weise in seinem Leben, seinem Überleben, in seiner Existenz oder seiner Sicherheit bedroht wird (ein Sicherheitsbegriff, dem man variable Inhalte und dehnbare Grenzen geben kann, die einer unendlichen Interpretation unterworfen sind).

      Noch einmal: Es geht um die Frage der Nützlichkeit, der nützlichen, zweckgerichteten Gerechtigkeit, im Gegensatz zu einer prinzipiellen Gerechtigkeit, einer reinen Gerechtigkeit, die sich von der Logik des Nützlichen, des Zwecks und der Mittel absondert. Kants Argument, auf das ich immer wieder zu sprechen kommen werde, besteht darin, die Todesstrafe vor allem nicht mit Nützlichkeit zu rechtfertigen, also mit jener Art abschreckenden Nützlichkeit, die die defensive Reaktion darstellen kann: Die Todesstrafe darf vor allem nicht als Verteidigung, und folglich auch nicht als legitime Verteidigung beziehungsweise Notwehr gerechtfertigt oder legitimiert werden. Diesbezüglich glaube ich, dass es gut wäre, das Kant’sche Argument wortwörtlich zu präzisieren, wonach das Recht, zu strafen, nicht durch irgendein Nützlichkeitsargument gerechtfertigt werden, nicht gerecht [juste] sein kann, und zwar eben gerade [juste] als Recht, nicht zu rechtfertigen ist. Das ist die Wurzel seines Gegensatzes zu Beccaria, obwohl er gegen Beccaria andere Einwände entwickelt. Die Strafe im Allgemeinen (nicht nur die Todesstrafe) mit Nützlichkeit zu rechtfertigen heißt, die juristische Person, das Rechtssubjekt für schuldig, und die ihm auferlegte Bestrafung für Mittel zum Zweck und nicht für Zwecke an sich zu halten. Man muss die Tatsache berücksichtigen, dass Kant in aller Strenge, und um zu wissen, wovon die Rede ist (eben deshalb muss man Kant lesen und muss man immer wieder neu damit beginnen, Kant zu lesen) [dass also Kant in aller Strenge, und um zu wissen, wovon die Rede ist,] damit beginnt, die juridische Strafe, die er poena forensis (Tafel) nennt, die Strafe, die vom Anderen, vom Gesetz, von der Gesellschaft oder vom Staat auferlegt wurde, die Strafe von außen (forensis), die Strafe des äußeren Gerichtshofs, des öffentlichen Platzes, die öffentliche Strafe, die allein den Namen der juridischen Strafe (Richterliche Strafe*) verdient, von der natürlichen Strafe (poena naturalis) zu unterscheiden, die den Gesetzgeber nicht interessiert und die mit dem Recht nichts zu tun hat. Wenn sich zum Beispiel das Laster selbst bestraft, wenn der Verbrecher, der Schuldige spontan für seine Verfehlung bezahlt, leidet, ja viel leidet, ohne vor einem Gericht zu erscheinen, dann handelt es sich um eine natürliche und nicht-juridische Strafe.17

      Diese prinzipielle Unterscheidung zwischen zwei Konzepten der Todesstrafe (einerseits die gewissermaßen vorjuridische Strafe, die natürliche und innerliche Strafe, andererseits die juridische Strafe, die des Strafrechts, von der man im Hinblick auf die Todesstrafe spricht, die nicht natürliche, sondern künstliche, institutionelle, historische, äußere und öffentliche Strafe, der Rechtsapparat, die juridische Maschine), diese prinzipielle Unterscheidung ist unerlässlich, wenn man wissen will, wovon man spricht, scheint sich auf den ersten Blick aber auch von selbst zu verstehen; sie ruft insbesondere in Erinnerung, dass das Recht, und in ihm vor allem das Strafrecht, und in noch stärkerem Maße die Todesstrafe nicht der Ordnung des Natürlichen angehört; das liegt nicht in der Natur, das ist keine natürliche Normalität; von da aus ist es nur ein Schritt, zu denken, dass diese Maschinenhaftigkeit anti-natürlich, ja anormal und monströs sei, < ein Schritt, > zu dem sich Kant natürlich nicht durchringt, von dem er im Gegenteil zu zeigen versucht, dass diese Nicht-Natürlichkeit die reine Vernünftigkeit selbst ist.

      Sie sehen jedoch, dass diese selbstverständlich erscheinende Unterscheidung zwischen einer poena forensis und einer poena naturalis, so spekulativ, jargonhaft und vernünftelnd sie auch erscheinen mag, auch den Ort furchteinflößender Probleme bezeichnet, die auch die des Alters, des Akts und des Begehrens sind. Wie soll man, und muss man überhaupt die Verbindung zwischen den zwei Regimen der Strafe, der natürlichen und innerlichen Strafe einerseits, und der juridischen und äußeren oder öffentlichen Strafe andererseits, in Rechnung stellen? Denn unter dem Regime der natürlich, innerlich, privat genannten Strafe, unter dem Regime der psychischen Ökonomie (bewusst oder unbewusst), wonach ein Verbrechen oder ein Laster sich selbst bestraft („dadurch das Laster sich selbst bestraft“*, sagt Kant18), können die Strafen bisweilen schwerer lasten als die der juridischen, öffentlichen Strafe, ja sie können auf sie folgen, ihr hinzugefügt werden oder ihr vorausgehen. Alle Fragen psychoanalytischer Art, die das Alter betreffen (die Reife, die Geschichte, die Altersstufen des onto- oder des phylogenetischen Bewussten oder Unbewussten usw.), die das Begehren und den Übergang oder Nicht-Übergang zum Akt19 betreffen, all diese furchteinflößenden Fragen stellen sich am Verbindungspunkt [articulation] zwischen den beiden Straf-Regimes. Wenn – wie Freud und Reik suggerieren, die wir gleich lesen werden – ein Verbrecher tatsächlich schuldig ist, von der Schuld niedergedrückt wird, bevor er zur Tat schreitet/zum Akt übergeht [passer à l’acte], und dann zum Akt übergeht, begehrt, zum Akt überzugehen, weil er sich schuldig fühlt und seiner Schuld eine Existenz, eine äußere Realität verleihen will, eben gerade, um sich vom unerträglichen Leid eines Schuldgefühls, einer inneren Schuld zu befreien, die er nicht loszuwerden vermag, und nicht etwa umgekehrt, wenn man schuldig ist, weil man ein Verbrechen begangen hat; oder wenn ein Verbrecher, nach der Tat [acte], sich selbst noch schwerer bestraft als eine äußere juridische Strafe, eine Fremd-Bestrafung es täte, die im Grunde genommen immer käme, um die innerliche oder die natürlich genannte Strafe abzumildern (so sehr, dass der Schuldige danach streben kann, vom Gesetz abgeurteilt und bestraft zu werden, um sich von der natürlichen Strafe zu befreien, die viel unerbittlicher und dauerhafter ist, die er sich selbst innerlich aufzuerlegen scheint, oder die ihm jemand anders, dieses Mal von innen her, auferlegt), welchen Schluss kann man aus dieser natürlichen Strafe, dieser Selbst-Bestrafung im Grunde, die die von Kant als natürlich bezeichnete Strafe ist, ziehen? Gibt es jemals eine reine Selbst-Bestrafung? Ist die Strafe, und selbst die von Kant natürlich und also innerlich genannte Strafe, nicht immer bereits forensis, äußerlich, öffentlich, weil vom Anderen in mir, vom Außen innerhalb meiner selbst kommend? Wir werden sehen, wie diese Frage in unterschiedlichen Formen und Tonhöhen regelmäßig widerhallt. Wenn es nie eine reine Selbst-Bestrafung gibt, noch eine reine Fremd-Bestrafung, dann hält die für die Erkenntnis dessen, was Recht und Strafrecht sagen wollen, doch scheinbar so notwendige, so klassische, so präliminarische Unterscheidung nicht mehr stand; sie hält nicht lange stand, und zwar nicht nur hinsichtlich dessen, was eine theoretische und spekulative semantische Analyse, eine begriffliche Analyse uns darüber sagt, sondern auch aufgrund furchteinflößender konkreter Probleme, Situationen, in denen es schwierig, in Wahrheit unmöglich ist, die poena naturalis von der poena forensis, die natürliche von der juridischen, ‚forensischen‘, konventionellen, institutionellen, ja maschinellen usw. Strafe zu trennen. Die ganze Frage, sagen wir psychoanalytischer Art, und alle das Alter, den Akt und das Begehren betreffenden Dekonstruktionen sind im Winkel zwischen diesen beiden Strafen angesiedelt.

      Wir wollen aber vorläufig so tun, als ob diese Unterscheidung selbst legitim, begründet und beglaubigt sei. Wir wollen dies zumindest für jene Zeitspanne tun, die es braucht, um zu verstehen, was Kant Sorgen macht, und um ihm darin zu folgen, was an dieser Sorge vernünftig und legitim sein mag. Nachdem Kant diese Unterscheidung gesetzt oder in Erinnerung gerufen hat, immer noch im selben Text (Rechtslehre, genauer gesagt die Metaphysischen Grundlagen der Rechtslehre, in der Metaphysik der Sitten, 2. Teil, § 4920), setzt Kant, dass die juridische Strafe (forensis), die einzige, die den „Gesetzgeber“ interessiere, niemals einfach als ein Mittel dekretiert werden könne, um ein Gut zu erlangen (nie bloss als Mittel eines anderen Gutes*), sei es zum Nutzen des Verbrechers oder zum Nutzen der bürgerlichen Gesellschaft, sondern dass man sie nur deshalb auf ihn anwenden dürfe (diese Strafe auf den Verbrecher), weil Letzterer sich schuldig gemacht hat (weil er verbrochen hat*, hervorgehoben).

      Der Verbrecher muss also bestraft werden, weil er gefehlt hat, weil er schuldig ist, er muss aufgrund seines Fehltritts bestraft werden und nicht im Hinblick darauf, irgendeine Wirkung zu erzielen, irgendeinen Nutzen zu bringen, weder für den Verbrecher selbst noch für irgendjemanden innerhalb der Gesellschaft, der Nation oder gar der Menschheit. Mit anderen Worten: Die Bestrafung, wie ihr Subjekt, das bestrafte Subjekt, muss ein Zweck an sich sein, niemals

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