Die Todesstrafe II. Jacques Derrida

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Die Todesstrafe II - Jacques  Derrida Passagen forum

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der Mensch kann nie bloß als Mittel zu den Absichten eines anderen gehandhabt werden […]. Er muß vorher strafbar befunden sein [der Bestrafung würdig, die Bestrafung verdienend (strafbar* hervorgehoben)], ehe noch daran gedacht wird, aus dieser Strafe einigen Nutzen für ihn selbst oder seine Mitbürger zu ziehen.21

      Den Menschen zu achten, der abgeurteilt wurde, indem man ihn für seinen Fehltritt bestraft und nicht, weil die Bestrafung zu etwas dienen könnte, heißt, seine Würde als Zweck und nicht als Mittel zu achten. Jemanden zu bestrafen, weil er strafbar ist, und nicht, weil seine Bestrafung einen Schaden wiedergutmachen, als abschreckendes Beispiel dienen oder die Sicherheit, das Glück und das Wohlbefinden der Gesellschaft gewährleisten wird, das bedeutet, die Würde der menschlichen Person, des Menschen als Vernunftwesen zu ehren.

      Mit anderen Worten, wir wollen es noch einmal sagen: Jemand muss bestraft werden, weil er es verdient, bestraft zu werden, aber nicht, weil seine Bestrafung zu irgendetwas oder irgendjemandem, ihm selbst oder anderen, dienen könnte. Nicht einmal dann, wenn man von dieser Bestrafung ein Gut oder Glück erhoffen kann. „Das Strafgesetz“, so sagt Kant wörtlich, „ist ein kategorischer Imperativ“22. In die reine Auslegung dieses kategorischen Imperativs darf keine Idee von Fortschritt, Wohlbefinden, Glück oder Nützlichkeit im Hinblick auf Glück eingeführt werden. Die Strafrechtslehre muss jeder Theorie des Glücks, jeder Glückseligkeitslehre* gegenüber fremd bleiben. Diejenigen, die die Legitimität der Bestrafung, des Rechts, zu strafen, auf eine Theorie des Guten als Glück, als Wohlbefinden, als soziale Finalität stützen wollen, diejenigen, die im Strafrecht ein nützliches und notwendiges Werkzeug im Dienste des Guten [bien] und des Wohlbefindens [bien-être] sehen, all diese begreifen nicht nur nichts von der Spezifität des Rechts, sondern verachten im Grunde das Recht und die Rechtssubjekte; sie haben keinerlei Achtung für das, was die Würde und den Wert des menschlichen Lebens ausmacht, nämlich die Tatsache, als Zweck und nicht als Mittel betrachtet zu werden und also über dem Leben zu stehen. Der Wert des menschlichen Lebens, das, was dem menschlichen Leben seinen Wert verleiht, das ist per definitionem mehr wert als das Leben, das ist das, was im Leben mehr wert ist als das Leben. Alles in allem stellt Kant sich denen entgegen, die sagen, dass das Strafrecht, und insbesondere die Todesstrafe, nützlich oder notwendig sei. Von dieser Prämisse, die er mit Beccaria teilt, schließt er jedoch auf das Gegenteil, nämlich nicht, wie Beccaria, darauf, dass die Todesstrafe, wenn sie unnütz ist, abgeschafft werden müsse, sondern darauf, dass sie, eben weil sie ihrem Wesen nach unnütz, jenseits der Nützlichkeit, nicht-nützlich sein muss, als Würde und Ehre des Menschen aufrechterhalten und geachtet werden müsse. Strafen und Ehren sind hier untrennbar (um die Frage von Benveniste in Erinnerung zu rufen23). Ihre Verknüpfung ist nicht vage, sondern in der Vernunft begründet. Diejenigen, die sich auf die Nützlichkeit beziehen, degradieren und entehren sowohl das Recht als auch den Menschen. Kant bedient sich in Bezug auf diesen Diskurs der Nützlichkeit des auf schreckliche Weise belasteten Worts vom „Pharisäismus“. Es sei ein pharisäischer Diskurs, die Todesstrafe durch das Interesse der Gemeinschaft, durch die für das Überleben des Volkes lebensnotwendige Nützlichkeit rechtfertigen zu wollen.

      […] wehe dem! welcher [… den] pharisäischen Wahlspruch [anwendet]: „es ist besser, daß ein Mensch sterbe, als daß das ganze Volk verderbe“; denn, wenn die Gerechtigkeit untergeht, so hat es keinen Wert mehr, daß Menschen auf Erden leben.24

      Mit anderen Worten: Der Wert des Lebens ist, per definitionem, mehr wert und besser als das Leben; was dem Leben seinen Wert verleiht, steht über dem Leben – und das hängt mit der Gerechtigkeit zusammen, einer Gerechtigkeit, die besser ist als das Leben. Der Pharisäismus, das ist, für eine verdächtige Tradition, die aber bis zu Kant und darüber hinaus reicht, jene Kultur von Krämerseelen, die den Buchstaben und den Körper dem Geist vorziehen, die das Leben der Würde des Lebens vorziehen, und die also berechnen, die aus der Gerechtigkeit ein utilitaristisches Kalkül machen, die die Todesstrafe, und den Tod eines Menschen, als eine Investition, ein Handelsgeschäft, eine nützliche Transaktion, ein Tauschgeschäft rechtfertigen: Der Tod eines Menschen als Preis für die Sicherheit oder das Wohlbefinden, für das Überleben der Gesellschaft. Diese Pharisäer (und hinter dem Wort Pharisäer zeichnet sich immer der Schattenriss eines scheinheiligen, buchstabengläubigen, ritualistischen, berechnenden Juden ab) sind verachtend und verachtenswert. Sie verachten das Prinzip der reinen Gerechtigkeit, das den Geist des Menschen, den Menschen als Ziel an sich und nicht als Mittel betrifft; sie achten den Angeklagten oder den Verurteilten nicht. Sie ehren ihn nicht. Gleichzeitig entehren sie sich selbst, sind sie selbst der menschlichen Würde unwürdig und genauso verachtenswert wie das, was sie verachten. Kant fährt fort, immer noch gegen diejenigen, die aus dem Leben des Verurteilten, aus dem Körper des Verurteilten etwas machen, das für die Gesellschaft oder gar für die Menschheit nützlich ist, die nach ihrem Belieben darüber verfügt (denn für Kant bedeutet die Tatsache, einen Menschen hinzurichten, nicht, über ihn zu verfügen oder mit ihm zu machen, was man will, oder Macht über ihn auszuüben, indem man ihn instrumentalisiert, sondern in ihm einen Menschen zu achten und zu ehren, der würdig ist, bestraft zu werden, weil sein Handeln strafbar ist), Kant fährt also fort, indem er die Fiktion (die übrigens gar nicht so fiktiv ist) eines schrecklichen Handels imaginiert, der einem zum Tode Verurteilten das Leben, also die Begnadigung anbieten würde, unter der Bedingung eines Vertrags also, durch den er seinen Körper der Wissenschaft zur Verfügung stellt:

      Was soll man also von dem Vorschlage halten: einem Verbrecher auf den Tod das Leben zu erhalten, wenn er sich dazu verstände, an sich gefährliche Experimente machen zu lassen, und so glücklich wäre, gut durchzukommen; damit die Ärzte dadurch eine neue, dem gemeinen Wesen ersprießliche, Belehrung erhielten? Ein Gerichtshof würde das medizinische Collegium, das diesen Vorschlag täte, mit Verachtung abweisen; denn die Gerechtigkeit hört auf, eine zu sein, wenn sie sich für irgend einen Preis weggibt.25

      Kant unterscheidet wie immer zwischen der Würde (Würde*, der Wert als Würde, die ohne Preis ist, über allem Preis steht, wie die Gerechtigkeit) einerseits, und dem Wert (als Marktpreis*), dem vergleichbaren, berechenbaren Handelswert andererseits, dem Preis, der nicht die Würde ist, der der Würde unwürdig ist – und folglich unwürdig des Rechts des Menschen als Vernunftwesen oder als reiner praktischer Vernunft.

      Wir sehen sehr gut, dass Kant diese Logik und diese Bemerkung zur Transaktion, die man mit dem Körper des Verurteilten oder des Rechtssubjekts nicht eingehen dürfe, dass Kant also diese Logik jenseits all dessen < verorten > will, was man heute auf oft konfuse Weise eine Bio-Macht nennt, eine Staatssouveränität, die sich in Bezug auf die Körper der Bürger-Subjekte ein Recht über Leben und Tod sichern würde. Obwohl das Strafrecht und die Todesstrafe im Kant’schen Sinne, von einer bestimmten Seite betrachtet, dieser Theorie und diesem Begriff der Bio-Macht dienen können, gibt es in derselben Kant’schen Logik etwas, das sich ihr heftig widersetzt und sogar einen Widerstand gegen sie organisieren könnte. Einen schuldigen Bürger nach Recht und Gerechtigkeit zu töten, heißt Kant zufolge mitnichten, in souveräner Weise über seinen Körper zu verfügen. Wir werden die Konsequenzen, die Kant in seiner Kritik an Beccaria und in seiner Interpretation des ius talionis als kategorischem Imperativ aus all dem zieht, später noch untersuchen.

      Hier müssen wir sehen, dass die Kraft des Kant’schen Arguments darin besteht, dass es an zwei Fronten, auf zwei Flügeln wirksam ist. Kant stellt sich sowohl dem Anhänger als auch dem Gegner der Todesstrafe entgegen. Er stellt sich dem gewöhnlichen Anhänger der Todesstrafe und des Strafrechts entgegen, wo sich dieser Anhänger der Todesstrafe und der Bestrafung im Allgemeinen meistens auf die Nützlichkeit, die Beispielhaftigkeit, die Abschreckungskraft beruft: auf das Wohl der Gesellschaft, ja der Menschheit. Kant stellt sich, auf einem anderen Flügel, aber auch dem Befürworter der Abschaffung der Todesstrafe entgegen, der von derselben utilitaristischen und letztlich eudaimonistischen und vitalistischen Axiomatik ausgehend auf das Gegenteil schließt; der klassische Befürworter der Abschaffung der Todesstrafe zieht den Schluss, dass die Todesstrafe nutzlos ist, ohne exemplarischen Wert, ohne abschreckende Wirkung – oder er stellt das natürliche Leben, das biologische Leben

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