Die Todesstrafe II. Jacques Derrida
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Kant würde eine Notwehrjustiz, ein Argument, das sich auf die Notwehr beruft, um die Tötung von irgendjemandem zu rechtfertigen, also nicht akzeptieren. Der Rückgriff auf die Logik der Selbstverteidigung ist jedoch, in dieser buchstäblichen Form oder in einer mehr oder weniger indirekten oder bildlich-übertragenen Form, fast überall am Werk, wo man die Todesstrafe zu rechtfertigen versucht. Wenn die Notwehr nicht die spontane Antwort eines Bürger-Individuums mit einer Waffe ist (die also nie wirklich spontan, sondern immer ein wenig organisiert ist), eines Bürgers oder einer Miliz, der oder die sich Gerechtigkeit [justice] verschafft, ohne auf das aufgeklärte und interessenlose Urteil des Gerichtshofs [cour de justice] zu warten, nun, dann gibt es Recht dort, wo, wie man sagt, der Staat als Verfechter der Gerechtigkeit/Gerichtsherr [justicier] die Funktion der Notwehr der Individuen und des Kollektivs übernimmt – und wir werden gleich sehen, was Benjamin aus dieser Übernahme macht, wie er die Übernahme der Notwehr durch den Staat und durch das Recht interpretiert, wie er im Grunde genommen diese Notwehr [légitime défense] interpretiert, nämlich nicht als Verteidigung [défense] von diesem oder jenem, sondern des Rechts selbst durch sich selbst, und zwar dort, wo die Gewalt durch den Staat selbst monopolisiert und kapitalisiert wurde. Im Falle Amerikas, ich meine der USA, die von Beginn dieses Seminars an nicht als ein Fall unter anderen behandelt werden, sondern als ein Ausnahmefall, ein einzigartiger Fall innerhalb eines gewissen Ensembles, der folglich um so erhellender ist und auf der Weltbühne jenen vorherrschenden Platz einnimmt, den Sie kennen, in den USA also hat es sich ergeben, dass es aufgrund der Geschichte, insbesondere der Geschichte der Eroberung des Westens, eine besessene Anhänglichkeit an die Logik der Notwehr, der legitimen Verteidigung von Individuen und Familien gibt, die situativ lernen, der Polizei zu misstrauen, der Polizei des jeweiligen Einzelstaats und in noch stärkerem Maße der Bundespolizei, aber auch < an > die Logik des Staates selbst, ich meine jedes Einzelstaats innerhalb des Bundesstaats, jedes Einzelstaats, der gegenüber der Bundesjustiz auf seine Autonomie pocht. Und wenn Sie die beispiellose Verbreitung individueller Waffen, die höchste Waffendichte der Welt, den derart einfachen Zugang zum Handel mit individuellen Waffen in Betracht ziehen (aktuelle Debatte – weiter ausführen?+), die stets mit der Behauptung des Rechts auf Notwehr gerechtfertigt werden, wenn Sie, in derselben Logik, das traditionelle Pochen auf Unabhängigkeit der Einzelstaaten gegenüber der Regierung und der Justiz des Bundes betrachten, dann halten Sie einige Schlüssel (es sind nicht die einzigen) in Händen, um Zugang zur Frage der Todesstrafe in den USA zu erhalten.
Indem ich diese Parenthese über Benjamins Klammer [parenthèse] bezüglich der Notwehr schließe, eine Klammer, die er schließt, ohne sie zu schließen, da er sagt, dass dieses Recht auf Notwehr seinen gesamten Essay hindurch erhellt werden würde, < indem ich diese Parenthese also schließe >, kehre ich zur Maxime der gegenwärtigen europäischen Gesetzgebung* zurück, die Folgendes besagt: Wenn „Naturzwecke“ (Bedürfnisse, Begehren, Leidenschaften, Triebe, Interessen aller Art, bewusste oder das Unbewusste26…), wenn all diese natürlichen Bewegungen mit Gewalt an ihr Ziel kommen wollen, können sie mit den „Rechtszwecken“ kollidieren. Wir fragten uns also: Warum? „Aus dieser Maxime folgt“ nämlich, sagt Benjamin, dass die Gewalt in Händen individueller Personen für das Recht nicht etwa eine Gefahr unter anderen darstellt, sondern eine Gefahr, die „die Rechtsordnung zu untergraben“, das Juridische selbst zu unterminieren, zu ruinieren droht. Und Sie werden sehen, wie dieser andererseits so wenig kantianische Text bezüglich der Todesstrafe an eine Kantische Logik anknüpft. Benjamin erwähnt nämlich, was er „eine überraschende Möglichkeit“ nennt.27
Welche? Nun, jene, die das „Interesse des Rechts“ betrifft, und zwar ein Interesse des Rechts, das nicht daran interessiert ist, dies oder jenes, dieses Allgemeininteresse, dieses oder jenes bestimmte Interesse, diese legale Einrichtung oder jenen besonderen Rechtszweck vor individuellen Subjekten und individuellen Gewaltsamkeiten zu schützen, nein, das Recht hat auf ganz tautologische Weise ein Interesse daran, sich selbst zu schützen, und also die Gewalt [violence] zu monopolisieren, indem es sie dem Individuum nimmt. Daher spricht Benjamin von einer „Monopolisierung der Gewalt“ durch das Recht. Das Recht ist die Gewalt [force], das Recht, das ist die absolute Kapitalisierung, die hyperbolische Aneignung der Gewalt [violence]. Die individuelle Gewalt bedroht nun nicht dieses oder jenes Interesse außerhalb des Rechts, außerhalb des Gesetzes, sie ist schlicht und einfach bedrohlich für das Recht, für das Interesse des Rechts selbst, weil sie ihre eigene Existenz (bloßes Dasein*) außerhalb des Rechts hat. Was bestraft und sanktioniert wird, ist dann nicht diese oder jene Missetat, das Böse, das sie hervorrief, der Schaden, den sie nach sich zog, die Überschreitung dieses oder jenes Verbots. Was bestraft wird, ist die Herausforderung des Gewaltmonopols, welches das Recht konstituiert (in Wirklichkeit der souveräne Staat, obwohl Benjamin damals eher nur vom Recht als vom souveränen Staat spricht). Nun kommt die Bemerkung, die ich mit Benvenistes Frage nach der „recht vage[n] Verknüpfung“ zwischen strafen und ehren verbinden wollte. Wir gehen von Benveniste zu Benjamin über, beziehungsweise wir glauben eine Antwort Benjamins auf Benveniste zu vernehmen, wenn Letzterer – ohne allzu sehr daran zu glauben – nach der vagen Verbindung zwischen Glorifizieren und Bestrafen, Ehren und Strafen fragt. Kurz nachdem er diese Hypothese einer Monopolisierung der Gewalt durch das Recht formuliert hat, findet Benjamin die eklatanteste Bestätigung dieser Hypothese in der „heimliche[n] Bewunderung des Volkes“ für „die Gestalt des ‚großen Verbrechers‘“28.
Der große Verbrecher, das ist die souveräne Ausnahme dessen, der sich darauf verstanden hat, entweder die Monopolisierung der Gewalt durch das Recht herauszufordern und zu bestreiten (also durch den Staat, der diese Monopolisierung selbst ist – und gleich danach spricht Benjamin die Frage der Staatsgewalt an, in Bezug auf den Streik und den Krieg, aber ich werde nicht darauf zurückkommen, da ich sie [diese Fragen] in Gesetzeskraft angesprochen habe29) [der große Verbrecher, das ist also die souveräne Ausnahme dessen, der sich darauf verstanden hat, entweder die Monopolisierung der Gewalt durch das Recht herauszufordern und zu bestreiten] oder sich, als Individuum, die Gewalt anzueignen, die das Recht den Individuen entzogen hat. Das Volk ehrt also heimlich den „großen Verbrecher“, selbst wenn es der ihm auferlegten Bestrafung applaudiert; übrigens (immer noch die Frage des Spektakels und der Sichtbarkeit, des Voyeurismus, die wir letztes Jahr mit und gegen Foucault behandelt hatten, wobei wir auch Victor Hugo und Albert Camus gelesen haben30), wenn das faszinierte Volk den Martern oder den Hinrichtungen beiwohnen möchte, wenn es sie genießt oder bejubelt, dann deswegen, weil sein Hass auf den oder seine Furcht vor dem Verurteilten mit einem heiligen Schauder [horreur sacrée] vermischt ist, bestehend aus Bewunderung, Erstaunen, Neid gegenüber demjenigen, dem es in einer Art Duell mit dem Staat oder dem Recht, mit dem Gewaltmonopol, beinahe gelungen ist, sich die größte Kraft/Gewalt [force] wiederanzueignen und den Staat herauszufordern. Selbst wenn das Volk das Todesurteil verlangt, erkennt es im Verbrecher, im „großen“ Verbrecher, demjenigen, den man zum Tode verurteilt, eine absolute, fast souveräne Macht an. Der „große“ Verbrecher wird im Grunde, in seiner „Gestalt“, wie Benjamin sagt, so etwas wie der Repräsentant des Volkes in seinem latenten Protest gegen das Recht oder gegen den souveränen Staat, der ihm, dem Volk, die Gewalt [violence] entzogen hat, der das Volk der Gewalt beraubt hat, der das Volk vergewaltigt [violé] hat, um die Gewalt zu monopolisieren. Die Bewunderung für den Verbrecher, so heimlich und unbewusst, so uneingestanden sie auch bleiben mag, ähnelt einer Rache des Volkes am Recht oder am souveränen Staat, der ihm Gewalt angetan hat, um die Gewalt zu monopolisieren, selbst wenn dieser Akt der staatlichen oder juridischen Gewalt gegen das Volk im Interesse und mit Zustimmung des Volkes geschah. Ich glaube, dass Benjamin genau das sagen will, wenn er von einer „Sympathie der Menge gegen das Recht“31 spricht. Das Recht, das „heutige Recht“, sagt Benjamin