Behemoth. Franz Neumann
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In der Tat trat jetzt eine geradezu abenteuerliche Rastlosigkeit in den Vordergrund: Neumann pendelte periodisch zwischen New York und Berlin hin und her, er nutzte alte Kontakte zur amerikanischen Politik und stiftete neue nach Deutschland, er organisierte Fachkonferenzen mit Kollegen, hielt eine Vielzahl von Vorträgen und scheute sich nicht, sie auch gleich, in skizzenhafter oder thesenartiger Form, zu publizieren. Seine Aufsätze umfassten ein breites Spektrum an Themen und Fragestellungen, hielten sich dabei nicht an die akademischen Fächergrenzen, sondern reagierten auf aktuelle Anlässe oder bewegten sich souverän zwischen verschiedenen Methoden und Theorien. So rigoros der deutsche Emigrant im Gewande des amerikanischen Professors das Doppelpostulat von wissenschaftlicher Wahrheitssuche und politischem Engagement auch verstanden hat und so sehr er dafür von seinen amerikanischen Studenten und Kollegen bewundert wurde – das ändert nichts daran, dass diese Lebensgeschichte in persönlicher Hinsicht als ein Torso dasteht, ebenso wie fragmentarisch und vieldeutig geblieben ist, was man Neumanns wissenschaftliches Spätwerk nennen kann.
Ob es in den verstreuten Publikationen aus den 1950er Jahren dennoch so etwas gibt wie ein methodisches Programm, aus dem sich eine Theoriekonzeption oder gar eine geschlossene Gesellschaftstheorie hätte entwickeln können – darüber ist einiges gesagt und noch mehr spekuliert worden.30 Die hier vorgelegte Skizze fragt nicht primär nach der Solidität von Neumanns theoretischer Ausrichtung, sondern möchte die kontextbedingten Veränderungen freilegen, die sich im Verhältnis von Theorie und Praxis, von wissenschaftlicher Anstrengung und politischem Engagement ergeben haben. Wenn es einen verallgemeinerbaren Trend in der Wirkungsgeschichte von Franz Neumann gab, der in der letzten Phase deutlich kulminierte, dann lag er im eigentümlichen Vorgang einer Abstraktifizierung, d.h. in einer Entwicklung, die sowohl das politische Engagement als auch das wissenschaftliche Fragen auf ein allgemeineres, aber auch mehr selektives Niveau verwies. Interessant werden diese unvollendeten Orientierungsversuche, wenn man sie geschichtsphilosophisch ausdeutet, z.B. auf die Alternative zwischen einer eher optimistischen oder einer eher pessimistischen Zukunftsperspektive bezieht.
Blickt man zurück auf die Weimarer Republik und nimmt als Maßstab die Intensität der Beziehungen zu den Gewerkschaften, dann fällt sofort ins Auge, wie dünn sich Neumanns Verhältnis zur wiedererstandenen Arbeiterbewegung im Nachkriegsdeutschland gestaltet hat. Dokumentiert ist nur ein einziger Vortrag, den Neumann 1950 vor dem Sozialpolitischen Ausschuss des Deutschen Gewerkschaftsbundes in Düsseldorf gehalten hat.31 Aber auch umgekehrt gab es offenbar kein ernstgemeintes Rückkehrangebot von welcher Gewerkschaft auch immer, ganz zu schweigen von der peinlichen Frage, warum die westdeutschen Gewerkschaftsführer, als es 1954 den Posten des Arbeitsgerichtspräsidenten zu vergeben galt, nicht einen „Ehemaligen“ aus den eigenen Reihen (wie eben Franz Neumann oder seinen Socius Ernst Fraenkel) ins Spiel brachten, sondern mit Hans Carl Nipperdey einen ehemaligen nationalsozialistischen Arbeitsrechtsprofessor unterstützt haben.32 Hier nur von gegenseitiger „Entfremdung“ zu sprechen wäre offensichtlich eine zu harmlose Formulierung.
Aber auch Neumann hielt mit handfesten Differenzen nicht hinterm Berg, sondern artikulierte gegenüber der sich formierenden Gewerkschaftsbewegung massive Kritikpunkte, und dies, obwohl er in den frühen Nachkriegsjahren noch von einem positiven Zusammenspiel zwischen Arbeiterbewegung und demokratischer Politik ausgegangen war und z.B. gegenüber der Militärregierung immer wieder darauf insistiert hatte, dass – neben den ausgewiesenen „Widerständlern“ und manchen Geistlichen – bei den Arbeiterfunktionären noch am ehesten Reste eines demokratischen Geistes zu erwarten seien, weswegen man ihnen gegenüber den weitgehend korrumpierten Beamten beim Wiederaufbau der deutschen Verwaltung den Vorzug geben solle. Dieser Betonung eines konstruktiven Zusammenspiels zwischen sozialer und politischer Demokratie lief jetzt eine andere Einschätzung zuwider, die besonders seit dem Regierungsantritt Adenauers und mit der schrittweisen Etablierung der sozialen Marktwirtschaft in den Vordergrund trat.33 Hinter ihr stand die Beobachtung von zwei längerfristigen historischen Tendenzen, die sich auch nach dem Zweiten Weltkrieg wieder zu einer grundsätzlichen Bedrohung für den Aktionsradius der Arbeiterbewegung zusammenzubrauen schienen:
Einmal stellt Neumann fest, dass die Macht der Arbeiterbewegung, bedingt durch die Verbreiterung der Mittelschichten zwischen Kapital und Arbeit, in ganz Europa im Schwinden begriffen ist34; zum andern bemängelt er an Gewerkschaften wie SPD eine gefährliche Neigung zur Verselbständigung der bürokratischen Führungskader gegenüber der Basis, wodurch sich fortsetze, was schon 1933 an der Kapitulation der Gewerkschaften vor Hitler mitgewirkt habe: Die Isolation der Mitglieder lähmt die Aktivität und die politische Kampfbereitschaft an der Basis, die dazugehörige legalistische Einstellung führt zur Identifikation der Funktionäre mit den gegebenen Verhältnissen und schwächt umgekehrt die Orientierung an weiterreichenden sozialpolitischen Zielen.35 Die wiedererstandene Arbeiterbewegung operiert auch nach 1945 wieder zwischen diesen beiden Scherenmessern und ist zusätzlich bedroht von der prokapitalistischen Besatzungspolitik der Westmächte sowie vom Neutralitätszwang, der aus dem Konzept der Einheitsgewerkschaft resultiert. Wie richtig diese Diagnose war, hatte sich schon an den liberalkapitalistischen Tendenzen des Grundgesetzes gezeigt und war durch den Sieg der konservativen Christdemokraten in der ersten Bundestagswahl 1949 bestätigt worden.
Die deutsche Arbeiterbewegung, resümiert Neumann, hat ihre eigentliche historische Mission, nämlich die Durchsetzung eines dritten Weges zwischen Kapitalismus und Sozialismus, nicht erfüllt, teils weil die weltpolitische Stellung der Supermächte dies verhinderte, teils weil die Arbeiterbewegung diese weltpolitische Lage zu phantasielos zur Grundlage der eigenen Politik gemacht habe. Hier, im vorläufigen Scheitern der deutschen Arbeiterbewegung gegenüber ihren eigenen Zielen, dürfte einer der tiefsitzenden Gründe für die bei Neumann festzustellende Tendenz zum politischen Skeptizismus, wenn nicht zum psychischen Pessimismus liegen, wobei beides nicht gleichzusetzen ist mit einem grundsätzlichen Umschwenken des ehemaligen Sozialdemokraten zu einer neoliberalen Auffassung von Politik und Gesellschaft. Wohl aber wird aus dieser Tendenz heraus verständlich, weshalb Neumann im Hinblick auf die von ihm in der Weimarer Republik mitbegründete und noch in den 1940er Jahren festgehaltene Konzeption der Wirtschaftsdemokratie einen bemerkenswerten Positionswechsel vollzog.
Neumann hatte sich, worauf sein Freund Herbert Marcuse hingewiesen hat36, in den frühen 1950er Jahren an Ort und Stelle über die in der Montanindustrie installierten Versuche einer expansiven Mitbestimmung informiert – und er war entsetzt über die sich ausbreitende Apathie der Arbeiterfunktionäre und ihre mehr oder weniger reibungslose Integration in kapitalistische Interessensmuster. Aber wieder ist die daraus abgeleitete Ablehnung der Wirtschaftsdemokratie, die er doppelt – sowohl als Strategie der Arbeiterbewegung als auch unter demokratietheoretischem Gesichtspunkt – diskutiert37, nicht so sehr als ein Zurückgehen hinter früher vertretene Ziele zu verstehen, sondern als ein skeptisches Vorantasten: Die Wirtschaftsdemokratie erscheint ihm, gemessen an der Forderung einer aktivistischen Überwindung der politischen Entfremdung, als eine zu partikulare, zu konservative Form von politischer Beteiligung, auch wenn der heutige Begriff der Zivilgesellschaft noch nicht fällt.
Die in diesen Überlegungen sichtbar werdende Aufwertung der politischen gegenüber der Wirtschaftsdemokratie verweist auf das zweite Handlungsfeld, das Neumann in der Nachkriegszeit sicherlich am positivsten besetzt hatte, in das, sozusagen kompensatorisch, sein wissenschaftspolitisches Herzblut floss. Es ist gleichzeitig dasjenige, auf dem er seinen größten Erfolg, ja sogar eine erkennbare Langzeitwirkung erlangen konnte: Neumann hat als eine der prägenden Figuren in der Gründergeneration der bundesrepublikanischen Politikwissenschaft zu gelten, er hat direkten und maßgeblichen Einfluss auf die Gestaltung der Berliner Wissenschaftslandschaft genommen und sich hervorgetan sowohl bei der finanziellen Ausstattung der Freien Universität im Allgemeinen als auch bei der konzeptuellen Ausrichtung der Politikwissenschaft im Besonderen. Und weil davon auszugehen ist, dass die Berliner