Letzte Umarmung - Roland Benito-Krimi 3. Inger Gammelgaard Madsen
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Читать онлайн книгу Letzte Umarmung - Roland Benito-Krimi 3 - Inger Gammelgaard Madsen страница 9
»Nehmt euren Scheiß mit!«, brüllte sie erneut und deutete auf die leeren Flaschen, die verstreut herumlagen, als ob ein Orkan gewütet hätte. Der letzte junge Mann sammelte schnell die Flaschen ein und stellte sie in den Kasten. Er sah sie nicht an, als er an ihr vorbei zur Tür ging. Sie knallte sie fest zu, bevor er ganz draußen war, sodass ihm fast der Bierkasten aus den Händen fiel.
Rose erhob sich unsicher wie ein neugeborenes Fohlen, wollte offensichtlich protestieren, hatte aber wohl keine Kraft, das zu verhindern, was passierte. »Gilt das auch für mich? Soll ich auch verschwinden?«, fragte sie mit zorniger, belegter Stimme.
»Ja, sollst du. Aber setz dich erst mal hin, ich muss mit dir über das hier reden.«
Rose gehorchte und zog erneut an der Zigarette. Anne setzte sich in einen Sessel und sah verzweifelt auf den Couchtisch, auf dem Brotkrümel, Asche und verschüttetes Bier in kleinen Klecksen zu einem dünnen Brei zusammenflossen. Offenbar hatten sie zu dem Bier Brötchen gegessen. Die aufgerissene leere Bäckertüte lag ebenfalls mitten im Schmutz. Sie musste gerade mal eben rückwärts von zehn bis eins zählen.
»Mama«, sagte sie mit ruhiger Stimme, aber mit noch größerer Verachtung, als ohnehin immer in diesem Wort gelegen hatte. »Wie kommst du darauf, dass du hier Feste feiern kannst, ohne mich vorher zu fragen? Meine Nachbarn sind wütend und das ist nicht das erste Mal. Ich habe vorher schon Verwarnungen vom Vermieter bekommen und die letzte lautete, dass ich nächstes Mal rausgeworfen werde.«
Ihre Mutter lächelte schief und warf ihr einen prüfenden Blick zu. »Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm, was? Du hast ja auch immer reichlich gefeiert, und ...«
»Das ist nicht das Gleiche«, unterbrach sie, »das erste Mal war die Einweihungsfeier, und ich hatte einen Zettel im Treppenhaus aufgehängt, dass es wohl ein bisschen lauter werden könne und ich hoffen würde, dass alle das verstehen. Das zweite Mal habe ich einfach ein bisschen zu laut Musik gehört, aber die Nachbarn – besonders die unter mir – sind so ...« Sie bemerkte, dass ihre Mutter immer noch lächelte, als würde sie kein Wort von dem glauben, was sie sagte. Sie gab auf. »Und wen hatten wir nun zu Besuch? Ich wusste nicht, dass du andere Sprachen als ›Nørrebroisch‹ kannst.
Rose streifte die Asche von der Zigarette ab. »Natürlich kann ich Litauisch. Ich hab’s ein bisschen gelernt, als ich bei der Familie deines Vaters wohnte. Denk dran, du bist dort geboren. Deine Großeltern haben mich zu Hause rausgeschmissen, als sie entdeckten, dass ich schwanger war. Ich war denen total egal. So mit seiner eigenen Tochter umzuspringen!« Der Blick suchte vergebens nach Mitleid in ihrem.
»Du hast Recht. Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm«, entgegnete sie bitter. »Dann waren deine Gäste also aus Litauen?«
Ihre Mutter leerte die Flasche und stellte sie auf den Boden neben das Sofa, wo der Bierkasten gestanden hatte. Es sah aus wie eine Gewohnheit, und Anne wagte es nicht, sich vorzustellen, wie ihre Wohnung in Nørrebro wohl aussah.
»Also, es ist nicht nett von dir, dich so aufzuführen, Annchen. Der, der dich begrüßen wollte, heißt Adomas, er ist dein Cousin, die anderen sind Kumpels, die er mitgebracht hatte.«
»Mein Cousin! Du lädst einfach meinen Cousin ein, ohne mir das zu erzählen!«, rief Anne mit abgrundtief vorwurfsvoller Stimme.
Ihre Mutter wedelte mit der Hand, wie um eine Fliege zu verjagen. »Nee, nein. Die waren wahrhaftig nicht eingeladen, die ...«
»Woher kannten die dann meine Adresse?«
Rose seufzte laut. »Adomas hatte vor einiger Zeit gesagt, er wolle mich gerne besuchen. Er hat hier in Jütland auf einer Baustelle gearbeitet, aber jetzt ist sie wegen des Wetters stillgelegt, und daher wollte er mich in der Zwischenzeit besuchen. Gestern hat er dann mitgeteilt, dass er mit einigen Kumpels unterwegs ist, und daher hab ich ihm deine Adresse gegeben, weil ich auf dem Weg hierhin war. Wäre ja dumm, wenn sie nach Kopenhagen gefahren wären, wenn ich ...«
»Okay, und das hast du mir also gestern nicht erzählt? Was, wenn ich dir nicht erlaubt hätte, hierzubleiben?«
»Ich wusste doch, du würdest es, Schätzchen. Ich bin doch deine Mutter!« Sie lachte heiser.
Anne antwortete nicht.
»Ja, und dann kamen sie also heute Morgen und haben mich mit einem Kasten Bier und Brötchen geweckt. Das sind ein paar nette Jungs, musst du wissen.«
»Kann schon sein. Aber du hättest mir trotzdem etwas davon sagen können, es ist ja immer noch meine Wohnung, und ...«
»Kann Adomas nicht auch hier wohnen?«, unterbrach sie. »Seine Freunde sind mit nach Dänemark gekommen, um ebenfalls Arbeit zu finden. Milch und Honig, weißt du. Es lief für sie alle nicht so gut. Die drei, die mit ihm hier waren, haben irgendwo in einer Gärtnerei Arbeit bekommen, aber andere haben es nicht so gut getroffen und sind auf die schiefe Bahn geraten.«
Anne bereute immer mehr, überhaupt geöffnet zu haben, als ihre Mutter gestern geklingelt hatte.
»Tagsüber arbeitest du doch selbst, dann merkst du gar nicht, dass wir hier sind. Ich verwöhn dich dann, koche, wenn du heimkommst, und ...«
Anne ging in die Küche und steckte einen Filter in den Trichter der Kaffeemaschine. Es war nicht der Drang nach Kaffee, der sie dazu veranlasste, sondern der Drang, dem Blick ihrer Mutter zu entkommen. Sie hatte es nie gemocht, Leuten direkt ins Gesicht zu lügen, wollte aber nicht erzählen, dass sie ihren Job verloren hatte. Das Land, in dem Milch und Honig fließt, ja, das gab es nur im Zweiten Buch Mose oder vielleicht vor ein paar Jahren mit Neubauten, hypothekenfreiem Eigentum und fast nicht vorhandener Arbeitslosigkeit. Und der Apfel fällt nicht weit vom Stamm, ja, da war was dran. Aber bald hatte sie wieder einen Job, sodass Rose nichts davon wissen musste, dass sie auch arbeitslos war. Deswegen war sie spät nach Hause gekommen. Es sollte so aussehen, als wäre sie in der Redaktion gewesen. Das Vorstellungsgespräch hatte nur eine halbe Stunde gedauert, und sie würde im Laufe der Woche eine Rückmeldung bekommen. Aber es hatte richtig viele Bewerber gegeben, hatten sie gesagt, daher ... Danach hatte sie bei McDonald’s gefrühstückt, in einem Café im Studentenviertel gesessen und die durchgefrorenen Menschen beobachtet, die draußen vor dem Fenster in dicken Wintermänteln und mit versteinerten Gesichtern vorbeiliefen – auf dem Heimweg von der Arbeit. Nach acht Stunden des Zeittotschlagens hatte sie sich zurück in die Wohnung im J. P. Larsens Weg begeben.
»Kommt nicht in Frage, das kannst du vergessen! Hier können nicht noch mehr wohnen. Wir sind schon einer zu viel.« Sie schwieg, während sie die Löffel abzählte und den Kaffee in den Filter gab. Kurz darauf brodelte die Maschine und der Duft breitete sich aus. Sie fing an, die Küche aufzuräumen.
»Ann, du wolltest immer Menschen in Not helfen. Das weiß ich doch. So gut kenne ich dich. Und das, was ihr ihnen in der Zeitung vorwerft, haben die echt nicht gemacht.«
Mitten in der Bewegung, das Geschirrtuch in einer Tasse, hielt sie inne, drehte sich um und schaute Rose an. »Was werfen wir ihnen vor?«
»Das müsstest du doch selbst am besten wissen. Das war zwar nicht deine Zeitung, aber schreibt ihr nicht eh fast das Gleiche? Nett, dass du Kaffee kochst, den brauche ich gerade wirklich.«
»Wovon genau redest du?« Sie wusste nicht mehr, was in der Stadt passierte. Ohne ihren Job war sie total unwissend. Fröhliche Unwissenheit hatte das mal jemand genannt, aber Unwissenheit