Christentum und Europa. Группа авторов

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Christentum und Europa - Группа авторов Veröffentlichungen der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Theologie (VWGTh)

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und im Lichte von ihr immer schon vorgegebenen Gewißheiten zu vollziehen vermag […]«.26

      Im Kontext des Judentums und des Christentums sei diese gewissheitsexplizierende Vernunft zu Recht aufgenommen und als Theologie institutionalisiert worden. Die Theologie könne niemals »mit gewißheitskonstitutiven, sondern nur mit gewißheitsexplizierenden Leistungen der reflektierenden Vernunft rechnen, die sich deshalb stets auf ein vorgängiges Gewißheitsfundament in den Erschließungsleistungen geschichtlicher Lebenserfahrung beziehen« müsse, nämlich auf Gottes Offenbarsein in der Tora und im »am Kreuz vollendeten Lebenszeugnis« Jesu Christi.27 Auch in Herms’ Beitrag dieses Bandes spielt dieser Gedanke eine wichtige Rolle;28 ebenso wie in seiner Systematischen Theologie § 9 bestimmt Herms das Verhältnis von »Offenbarung und Vernunft« programmatisch als ein »asymmetrisches Konstitutionsverhältnis« und äußert eine ähnliche Kritik an einer vermeintlichen »Einheitskultur der Vernunft«.29

      Mir leuchtet sofort ein, dass Herms Offenbarung und Vernunft aus einer unfruchtbaren Gegensätzlichkeit zu befreien sucht, denn die dem Glauben eigene Rationalität gilt es tatsächlich nachdrücklich zu verteidigen; mir leuchtet jedoch weniger die Entgegensetzung von Explikation und Konstitution ein. Zwar ist diese begriffliche Unterscheidung hilfreich, weil der Begriff »gewissheitsexplikativ« bzw. die Aufgabe, vorfindliche und auf verschiedene Weise artikulierte Gewissheiten explizieren zu wollen, im Gespräch mit naturwissenschaftlichen Disziplinen zu unseren ersten Aufgaben gehört. Der Begriff ist ebenfalls hilfreich, weil er nicht von vornherein mit der Assoziation des Dogmatischen bzw. eines Dogmatismus einhergeht, der der Theologie ohnehin oft unterstellt wird. »Gewissheitsexplikativ«, in dieser Hinsicht gebraucht, deckt sich mit der von Walter Sparn vorgeschlagenen Formel vom Christentum als der Kultur eines Wissens, »das sich seiner Motive, Gründe, Bedingungen, mithin auch seiner Grenzen bewusst« sei.30

      Ausweichen können wir der Assoziation bzw. dem Vorwurf des Dogmatismus allerdings nur dann, wenn der Begriff »gewissheitsexplikativ« methodisch konsequent als hermeneutischer Begriff verwendet wird. Er bedeutet dann, dass wir uns in der Theologie auf Texte bzw. Aussagen beziehen, die von den biblischen Schriften an bis heute in zeugnishaftem Ausdruck von der Gewissheit getragen sind, dass Gott ist, handelt und regiert. Da die Theologie zu diesen Äußerungen seit ihren Anfängen analysierend, kritisch und konstruktiv fortschreibend Stellung nimmt, ohne selbst religiöse Gewissheitsrede zu sein, hat sie sich ein Interpretationswissen angeeignet, das auch für die Deutung gegenwärtiger religiöser bzw. spiritueller Vorstellungen, Selbst- und Fremddeutungen und deren Ansprüche relevant ist; und zwar gerade dann, wenn uns diese Vorstellungen, gespiegelt über den interdisziplinären Diskurs, in einer bunten, unsortierten, konflikthaften und synkretistischen Vielfalt begegnen. So wichtig die bleibende Differenz zur religiösen Gewissheitsrede ist, so deutlich ist freilich auch, dass jede gewissheitsexplikative Leistung zugleich eine gewissheitskonstitutive Funktion hat.31 Denn was auch immer die reflektierende Vernunft in gewissheitsexplikativer Weise von Gott sagt – sie ist mit ihrer explikativen Leistung Teil neuer Gewissheitskonstitution, und zwar gerade dann, wenn es um »Gewissheit« geht und nicht um »Gott selbst«. Dass keine menschliche Rede »Gott selbst« konstituieren könnte, ist klar. Aber jede einzelne Deutung Gottes als Gott, jede Rede von Gottes Selbstoffenbarung als Selbstoffenbarung ist ein konstitutiver Prozess. Die explikative Suchbewegungdes Verstehens und Vermittelns ist an die konstitutive Deutung gebunden, so dass beide Hinsichten zwar klar unterschieden werden müssen, aber nicht getrennt werden können. Mit Walter Sparn gesagt geht es um den elementaren Sachverhalt, »dass menschliches Wissen stets im Kontext von Verstehen erworben und gebraucht wird, dass Verstehen stets ein Sich-Verstehen und ein Sich-Verstehen-auf einschließt.«32

       V. Theologie als religionskulturelle und situativ-existentielle Intelligenz – ein Vorschlag im Anschluss an Walter Sparn

      Walter Sparn bestimmt das Christentum als »religionskulturelles Gedächtnis Europas«, mahnt zur nötigen Arbeit an den darin implizierten Ambivalenzen und erörtert diese an den Figuren einer »ökumenischen Intelligenz« und einer »religionskulturellen Intelligenz«.33 Diese Figuren möchte ich gerne aufnehmen und im Blick auf das Gespräch mit den Naturwissenschaften erweitern um die im Christentum entwickelte Figur der »situativen Intelligenz« bzw. »situativ-existentiellen Glaubensreflexion«. Zu solch einer »situativen Intelligenz« gehört nicht nur die auch bei Sparn thematisierte Verhältnisbestimmung von subjektiver und objektiver, individueller und gemeinschaftlicher, positioneller und konsensmäßiger theologischer Urteilsbildung. Es gehört auch hinzu der Konstitutions- und Verstehensprozess, der sich im Aufbau der religiösen Biographie in der Rezeption und im Durcharbeiten verschiedener Gottesbilder bzw. der weitläufigen Sprachwelt des Christentums vollzieht. Vor allem gehört dazu, dass diese vielfältige Sprach- und Bildwelt christlich-religiöser Explikations- und Deutungsleistung in biographischer Hinsicht stets in einer bestimmten situativen Verfasstheit rezipiert und bearbeitet wird und auf diese Weise für die Erschließung der Gehalte sowie für ihre Geltung relevant ist.

      Das Instrumentarium für die Wahrnehmung dieser situativen Verfasstheit ist in der Praktischen Theologie längst ausgearbeitet, v. a. in den Bereichen der Poimenik, in religionspsychologischen und religionssoziologischen Studien oder in der Biographieforschung. Dass Menschen in unterschiedlichen Lebenssituationen unterschiedlich wahrnehmungsfähig, ansprechbar, ausdrucks- und handlungsfähig sind, versteht sich dort von selbst. In der Systematischen Theologie geht die Aufnahme dieser Perspektiven freilich oft mit dem Vorwurf einer »bloß« anthropologischen, gar – horribile dictu – psychologisierenden Theologie einher, in der die eigentliche Sache der Theologie, Gott, nicht mehr zur Sprache komme. Obwohl Albrecht Beutel doch in der Eröffnungsrede zu diesem Kongress gesagt hat: »Wenn wir in unserem Denken bei der Sache sind, dann sind wir – in der Theologie – bei uns selbst.«34

      Entsprechend hat die konstitutive Bedeutung der situativen Verfasstheit in der Systematik bisher wenig Beachtung gefunden, und zwar v. a. in der Dogmatik, was selbstverständlich mit deren Aufgabe zusammenhängt, die für die christliche Kirche protestantischer Provenienz zu einem bestimmten Zeitpunkt geltende Lehre im Zusammenhange und d. h. allgemein diskursiv darzustellen. Ohne die bleibende Notwendigkeit dieser Aufgabe bestreiten zu wollen, führt sie im Ergebnis doch zu einem Problem: Unsere dogmatischen Überlegungen sind zwangsläufig lebensübergreifend geschrieben in der Annahme, dass sie sich für Gemeindepraxis und Ethik in einzelne Konkretionen hermeneutisch umsetzen lassen. Das gelingt, aber es gelingt nicht immer und erklärt manche Entfremdung zwischen Systematischer Theologie und kirchlicher Praxis. Es ist daher etwas anderes – und darauf wird es künftig ankommen, die dogmatischen Themenkonstellationen selbst aus der situativen Polyvalenz menschlicher Lebenserfahrung mit und vor Gott zu entwickeln. Nicht nur für die Ethik und nicht nur in der kirchlichen Praxis, sondern auch für unsere gesamte Glaubensreflexion sind wir an die lebenspraktische, alltägliche und existentielle Elementarität verwiesen, die sich nur in ihrer situativen Polyvalenz, d. h. in der gleichzeitigen und gleich gültigen Mehrdimensionalität situationsbezogener Erfahrung, verstehen lässt und von der aus die thematische oder unthematische Glaubensreflexion und ethische Orientierung bestimmt sind: Dazu gehören z. B. Angst und Furcht, Aggression, Depression und andere Formen der Autoaggression, Selbstverlust und Trauer, aber auch Demut, Vertrauen, Hoffnung, Freundschaft oder Verantwortlichkeit.35 Bewusst sind hier nicht nur negativ-konnotierte Lebenserfahrungen genannt, denn das würde zu kurz greifen. Dass die Frage des Glaubens, wie bei Volker Gerhardt ebenfalls angeklungen,36 aber besonders in jenen existentiellen Lebenssituationen aufbricht, in denen es um schöne wie ernste Momente der Entgrenzung, des Exponiertseins oder der völligen Hingabe geht – »Dein Wille geschehe« –, das scheint mir eindeutig zu sein. Traugott Koch hat das bis heute unüberboten gezeigt für die Relation von Zweifel und Gottvertrauen;37 Jörg Lauster hat es für die Zugänglichkeit des Schöpfungsbegriffs und der Christologie gezeigt,38 und es lässt sich ebenso zeigen für die Rezeption des Begriffs der Allmacht in existentiell bedrohlichen Gebetssituationen.39

      Für

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