Christentum und Europa. Группа авторов

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Christentum und Europa - Группа авторов Veröffentlichungen der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Theologie (VWGTh)

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(Psycho-)Pathologie wie der Resilienz mit erklären zu können, und zwar in allen Bereichen der Ethik von der Sozial- bis zur Bio- und Technikethik. Der Blick richtet sich also auf Affekte und Emotionen, Intuitionen, Imaginationen, prozessuale Vollzüge und anderes mehr und macht die Dogmatik selbst damit auf andere Weise anschlussfähig an Phänomene, Krisen und Konflikte situativer Existentialität, die sich ebenso in Medizin, Psychologie etc. finden. Um es mit Volker Gerhardt zu sagen: Es gibt disziplinfremde Kolleginnen und Kollegen, aber sie müssen deshalb nicht »fachfremd« oder gar »sachfremd« sein.40 Oder, um Ulrich Körtner frei zu variieren: Die Dürftigkeit menschlichen Lebens steht ja gerade nicht nur den Christenmenschen vor Augen, sondern ebenso jenen, die sich nach Ruhe, Vertrauen und Aufgehobensein sehnen, ohne zu wissen, wohin sie sich wenden können.41 Es gehört zu den größtmöglichen Stärken unserer christlichen Tradition und der Theologie, in diese Situationen hinein die Rede von Gott narrativ, erinnernd und vor allem reflexiv laut werden zu lassen.42 Und zwar deshalb, weil unsere Tradition von den biblischen Texten bis in die paradigmatischen Dogmatiken hinein die Rede von Gott auf stets neue Weise im menschlichen Leben zum Ausdruck zu bringen versucht. Das gelingt nicht immer, weshalb die Texte für manche Menschen in der Tat »stumme Zeugen« sind,43 aber es gelingt noch am ehesten dort, wo wir uns den existentiellen Fragen zuwenden, statt an den herkömmlichen Antworten kleben zu bleiben.44

      In diesem Sinne ist vielleicht nicht alle theologische Reflexion, aber mindestens jede ordentliche Dogmatik auch Erfahrungswissenschaft in einem weiteren und umfassenderen Sinne als es der naturwissenschaftliche Erfahrungsbegriff nahelegt – daran halte ich mit Albrecht Beutel oder Dietz Lange fest,45 auch wenn mit Dirk Evers dafür zu plädieren ist, den Erfahrungsbegriff seinerseits aus der folgenden unfruchtbaren Opposition zu befreien: der Opposition zwischen (a) einer bloßen Verlängerung des strikt empirischen Erfahrungsbegriffs, der auf die Kombination von sinnlicher Wahrnehmung und Begriff reduziert ist, und (b) einer dem empirischen Begriff entgegensetzten, im engen Sinne subjektivitätstheoretischen Konzeption. Stattdessen wäre mit dem nötigen Selbstbewusstsein (c) ein hermeneutischer Erfahrungsbegriff zu wählen, der lebenspraktische Vollzüge mitsamt ihren religiösen und sonstigen Sinndeutungen konstitutiv mit einbezieht: Transzendenzerfahrung als Transzendenzdeutung, weil es uns – nochmals ganz einig mit Dirk Evers – in der »Theologie wesentlich um eine Orientierung im Relativen und Vorletzten unter der Perspektive des Unbedingten geht.«46 Ob man solch eine Theologie dann als »Realistischere Theologie« bezeichnet wie Dirk Evers oder die Theologie mit Jörg Lauster als Lebenshermeneutik47 konzipiert wie im vorliegenden Beitrag, das ist vermutlich eher eine Frage der Terminologie.

      Bezieht man diese Erfahrungsdimension jedenfalls konstitutiv mit ein, dann besteht im Blick auf das Passungsverhältnis von christlichem Glauben und menschlichem Leben die methodische Herausforderung darin, dogmatische Glaubensreflexion, existentielle Anthropologie und Ethik mit den Methoden, Standards und best practice-Vorschlägen der medizinisch-naturwissenschaftlichen Kolleginnen und Kollegen so ins Verhältnis zu setzen, dass sich die situative Polyvalenz der Lebensphänomene in der Glaubensreflexion zu spiegeln vermag bzw. darin einen Resonanzraum findet.48 Das bedeutet nicht, dass nur solche Glaubenseinsichten wichtig werden könnten, die die momentane Erfahrung affirmierend bestätigen, sondern es umfasst auch und vor allem deren kontrastierende Widerständigkeit oder eine Konfrontation des Glaubens – wichtig ist allein, dass sich schon die Glaubensreflexion selbst als in die Elementaria der Lebenserfahrung eingelassen versteht.

      Besonders vielversprechend scheint mir solch eine Zugangsweise im Blick auf unsere europäische Perspektive zu sein: Schlicht, weil sich das Forschungsgespräch über Phänomene situativer Existentialität ob ihrer anthropologischen Elementarität sehr viel leichter über nationale, kulturelle, disziplinspezifische und schulmäßige Grenzen hinweg führen lässt. Das gilt, auch wenn die damit verbundenen deskriptiv-hermeneutischen Analysekategorien, die methodischen Vorgehensweisen und Untersuchungsstandards sowie die zugehörigen Theorien, Therapien und Ergebniserwartungen in höchstem Maße divergent sein dürften. Denn um deren Klärung willen treten wir in der Theologie ja erst ein in das mindestens europaweite Gespräch mit Medizin und Naturwissenschaften.

       Das Christentum in der Wissensgesellschaft der Neuzeit 1

       Eilert Herms

      Vieles von den Beobachtungen und Hinweisen meiner Vorredner kann aufgegriffen, gebündelt und kommentiert werden, indem ich den von mir erbetenen Überlegungen zum »Christentum in der Wissensgesellschaft der Neuzeit« die Gestalt von drei Vorschlägen gebe:

      – einem zur Klärung des Sachbezugs der Rede von »Gesellschaft der Neuzeit«,

      – einem weiteren zur Klärung ihrer Bezeichnung als »Wissensgesellschaft« und

      – einem abschließenden dritten zur Klärung der Rede vom »Christentum« (Singular) und seiner Stellung in dieser »Wissensgesellschaft der Neuzeit«.

      Hier, in diesem dritten Vorschlag, kommt »das Christentum« explizit als Gegenstand meiner Betrachtung vor. Als eine theologische Betrachtung steht diese freilich selbst schon auf dem Boden des Christentums;2 und das gilt nicht nur für den dritten, sondern schon für den ersten und zweiten Vorschlag, also für die Thematisierung der Gegenwartsgesellschaft und ihres Charakters als Wissensgesellschaft. Zur theologischen Selbstreflexion des Christentums gehören auch diese Themen. Grund: die Tatsache, dass das Christentum durch seinen Ursprung – die Christusoffenbarung – als ein verstehendes Verhältnis zum Ganzen des für uns und unseresgleichen zugänglichen Realen konstituiert ist;3 und zu diesem Ganzen des Geschaffenen gehört eben auch das als »Gesellschaft der Neuzeit« angesprochene Reale sowie derjenige Aspekt dieses Realen, der gemeint ist, wenn sie als »Wissensgesellschaft« bezeichnet wird. Wie das christliche Leben ist auch seine Selbstreflexion in der Theologie ein perspektivischer Zu- und Umgang mit dem Ganzen des Realen. Darin, in dieser Perspektivität ihres Verhältnisses zum Ganzen des Realen, weiß sich das christliche Leben und die Theologie als der exemplarische Fall jedes menschlichen Verhältnisses zum erkennbaren Realen, das auch in allen seinen möglichen anderen Gestalten nur als ein je Perspektivisches real ist. Mit der Offenlegung der Perspektivität ihres Zugangs zum Realen tut die Theologie nichts anderes als auch jeden möglichen anderen Zugang zum Realen auf dessen jeweilige Perspektivität hin anzusprechen und zu deren Offenlegung einzuladen.4

       1. »Gesellschaft der Neuzeit«

      Seit ihrem Aufkommen im 15. Jahrhundert ist die Referenz der Rede von der »neuen Zeit«5 komplex.

      – Erstens meint sie die Gegenwart der Sprecher im Unterschied zu früheren »Zeiten« (aetates)6, also das, was dann Fichte7 das »gegenwärtige Zeitalter« nannte,8 und zugleich

      – zweitens die Gegenwart des menschlichen Zusammenlebens9 nicht in einer Herde, sondern einer societas: einer Gesellschaft,10 eben in der »Gesellschaft der Neuzeit«, will sagen: der »Gegenwartsgesellschaft«.11 Damit ist

      – drittens faktisch stets das Ganze dieses Zusammenlebens gemeint, wenn auch meist in wechselnder Fokussierung auf einzelne Aspekte: in Konzepten wie »Ständegesellschaft«, »bürgerliche Gesellschaft«, »säkulare Gesellschaft«, »pluralistische Gesellschaft«, »Industriegesellschaft«, »Marktgesellschaft«, »Konsumgesellschaft«, »Konkurrenzgesellschaft«, »Risikogesellschaft«, »Erlebnisgesellschaft« und neuerdings eben auch »Wissensgesellschaft«.

      Weil diese Konzepte jeweils »Gesellschaft« als Zusammenleben von Menschen thematisieren, sind sie alle (zumindest

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