Christentum und Europa. Группа авторов

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Christentum und Europa - Группа авторов Veröffentlichungen der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Theologie (VWGTh)

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kann das Eschaton nicht in dieser Welt, im zweiten nur in ihr erwartet werden.

      Soviel zu den allgemeinen Form- und Inhaltsmerkmalen des für alles menschliche Zusammenleben erforderlichen gemeinsamen Wissens. Nun zur Manifestation und Thematisierung solchen Wissens in unserer Gegenwartsgesellschaft.

      2.2 Diese Gesellschaft weist – nach dem Übergang aus der Statik einer agrarischen Ordnung zur Dynamik einer städtisch-bürgerlichen – vier Grundzüge auf:

      – Ausdifferenzierung aller Grundfunktionsbereiche gegeneinander und intern,

      – damit verbunden: zunehmende Freisetzung der Individuen,

      – radikale Ersetzung jeder (quasi)ständischen Statussicherung durch uneingeschränkte Statuskonkurrenz (Konkurrenz um Gestaltungsmacht, Ansehen, Lebensstandard), die ihrerseits viertens

      – keineswegs ausschließt, sondern gerade hervorbringt: große Ungleichverteilungen von Entscheidungsmacht, die aber nur in Konkurrenz behauptet werden kann.33

      Diese Gestalt der Ordnung des Zusammenlebens ist in den westeuropäischen Ländern sowie den Ländern Nordamerikas und Australiens im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts erreicht; alle seitherigen Weiterentwicklungen – bedingt durch die Resultate des gewaltsamen Austrags der imperialistischen Konkurrenz in zwei Weltkriegen, enorme technologische Fortschritte und den Aufstieg von »Wissenschaft« zu Weltanschauung – bewegen sich auf dem Grundriss dieser (notabene: selbst geschichtlich gewordenen) Ordnungsgestalt und variieren sie.34

      Als Exemplar dieser Gesellschaft habe ich diejenige der BRD vor Augen, den meisten von uns als unsere eigene Gegenwartsgesellschaft vertraut. Als Exemplar weist sie Züge auf, die in ähnlicher Weise auch andere westliche Gesellschaften aufweisen (aber soweit ich sehe nicht alle europäischen Gesellschaften im geographischen Sinne, nämlich wohl zumindest nicht die russische, in der die Erfahrung und Verarbeitung einer bürgerlichen Revolution fehlt).35

      Was wird nun in dieser Gegenwartsgesellschaft als »Wissen« thematisiert und kommuniziert?

      Jedenfalls – in der überwiegenden und maßgeblichen Mehrheit – nicht mehr das Ganze der soeben beschriebenen Triade von praktischer Gewissheit mit artverschiedenem Gegenstand und Inhalt.

      Vielmehr manifestiert schon Kants einflussreiche, weitwirkende Unterscheidung der Frage nach dem möglichen Wissen von der nach dem gebotenen Tun und der nach dem erlaubten Hoffen36 eine Engführung der Rede von »Wissen« auf nur noch ein Element jener Triade, nämlich auf das gewisse Erwarten bezüglich unseres Umweltverhältnisses-im-Werden; und diese Engführung ist heute zu einer in der Öffentlichkeit dominanten Selbstverständlichkeit geworden. Sogar in verschärfter Form: Denn erstens kommt schon das Erwartungswissen über die Regelmäßigkeiten im Werden unseres Umweltverhältnisses überhaupt nur noch zur Hälfte unstrittig als »Wissen« in Betracht, nämlich vollkommen unstrittig nur noch als das die nichtmenschliche Natur betreffende »natur«-wissenschaftliche Wissen – dann freilich auch als Beschreibung unserer menschlichen Mitwelt im Werden, also »kultur«-wissenschaftliches (oder: »geistes«-wissenschaftliches) Wissen, aber dies eben als »Wissen« nur, sofern auch hier dem naturwissenschaftlichen Vorbild des Datensammelns und Bildens von erklärungs- und prognosekräftigen Modellen gefolgt wird (Wirtschaftswissenschaft, Politologie, Pädagogik, Psychologie)37 oder ihm zugearbeitet (Geschichtswissenschaft).38 Auch die sogenannten »Geistes«-wissenschaften, die reflexiv das Zusammenleben von menschlichen, leibhaft-innerweltlichen Personen, seine durch kommuniziertes Gewisssein gesteuerten Ordnungsgestalten und Hervorbringungen, auf den ihnen konstitutiv zu eigenen »Sinn« hin befragen, vermochten ihren Status als Wissenschaften seit Eröffnung dieser Debatte durch Dilthey39 und Wortführer des südwestdeutschen Neukantianismus40 nur dadurch zur Anerkennung zu bringen, dass sie auch sich selbst als »Erfahrungs«-wissenschaften zu beschreiben und zu betreiben suchten. Freilich, ohne dass sie dabei zu einer unmissverständlichen Kritik und Überwindung des enggeführten Kantschen Verständnisses von »Erfahrung« zu gelangen vermochten.41

      Jedenfalls ist in unserer Öffentlichkeit gegenwärtig das Erheben von Wahrheitsansprüchen nur noch für Handlungseffektivität sicherndes Erwartungswissen, das aus den Sciences stammt, unbestritten und uneingeschränkt zulässig. Beide darüber hinausgehende Gestalten praxisleitenden Erwartungswissens gelten, eben weil sie über das von den Sciences gebotene handlungsmachtsteigernde Erwartungswissen hinausgehen, als nicht wahrheitsfähig und in der Öffentlichkeit als private Ansichts- und Meinungssache: So schon alle Annahmen über Welt als den realen Möglichkeitsraum der asymmetrischen Wechselwirkung zwischen Kultur und außermenschlicher Natur, die für die Selbsterfassung der Identität von Interaktanten – Gemeinschaften und Einzelnen – unerlässlich sind,42 und erst recht alle praktischen Gewissheiten über Letztziel und Bestimmung von Welt und Mensch, also alle zielwahlleitenden Überzeugungen. Deren Realität und Wirksamkeit wird als eine rein subjektive (also psychologisch und sozialpsychologisch zu beschreibende) angesehen und ihre inhaltliche Bestimmtheit als das Resultat von (ebenfalls subjektiven) »Deutungen«.

      Gerade sie aber, diese inhaltlich bestimmten, zielwahlleitenden praktischen Gewissheiten über Letztziel und Bestimmung von Welt und Mensch, und keineswegs allein formale Regeln für die Respektierung der Willkür des einen durch die Willkür des anderen, fundieren – wie auch Kant schon wusste43 – den qualitativen Charakter des menschlichen Zusammenlebens, also sein materiales Ethos – und somit sind es genau diese Fundamente des materialen Ethos, deren Wahrheitsfähigkeit in unserer Gegenwartsgesellschaft zumindest zweifelhaft sind und die deshalb weithin einem öffentlich nicht mehr auskunftsfähigen und auskunftspflichtigen Belieben ausgeliefert bleiben.

      Dieser Engführung der Vorstellung von »Wissen« entsprechen auch die verschiedenen Weisen, wie in den Institutionen der Gegenwartsgesellschaft der Anspruch erhoben und realisiert wird, dass die Gegenwartsgesellschaft eine »Wissensgesellschaft« sei.44 Dafür vier Beispiele auf der Makroebene, jeweils aus der Perspektive verschiedener Grundfunktionsbereiche:

      Beispiel 1: Aus der Perspektive der Wirtschaft – These: Wir leben im Übergang »von der Industrie- zur Wissensgesellschaft«.45 Gemeint ist der Übergang zur Hervorbringung und Vermarktung industrieller Produkte unter Einbeziehung und Ausnutzung aller Möglichkeiten der Digitalisierung (Automatisierung, Datenspeicherung und -auswertung). Das wird in der Tat gesellschaftliche Veränderungen bewirken, setzt aber einfach die schon fast 200 Jahre alte Gewohnheit fort, »Wissen« nur als Produktionsmittel zur Steigerung der Effizienz und gesellschaftlichen Dominanz des Wirtschaftens anzusehen und zu fördern (dazu ist zu vergleichen der »BuFI«: BMFB [Hg.], Bundesbericht Forschung und Innovation, 2 Bde. 2016 [nach Auskunft dieses Ministeriums »das Standardwerk zur Forschungs- und Innovationspolitik Deutschlands«]).

      Beispiel 2: Die Gegenwartsgesellschaft wird aus der Perspektive der Sciences im Bunde mit Politik als »Wissensgesellschaft« proklamiert: – Für das 2011 vorgelegte Hauptgutachten des »Wissenschaftlichen Beirats der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen« (WBGU) ist die Gegenwartsgesellschaft insofern »Wissensgesellschaft«,46 als sie von umweltunverträglichen auf nachhaltige Pfade umschwenkt durch eine große Gesamttransformation, die von einschlägigen Sciences inspiriert und gesteuert wird, durchgesetzt jedoch durch eine den Maßgaben dieser Sciences folgende Gesetzgebung des »gestaltenden Staates«, der auch über die Instrumente der Meinungsbildung, insbesondere Schulen und Hochschulen, verfügt, die »den Menschen« (gemeint sind immer die Rechtsunterworfenen) die nötige Einsicht und Zustimmung ermöglichen. Auch der Weg, auf dem dies Ziel zu erreichen ist, zeichnet sich immer klarer ab: die Abstützung des Unterrichts an den staatlichen Schulen

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