Zirkuläres Fragen. Fritz B. Simon

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Zirkuläres Fragen - Fritz B. Simon Systemische Therapie

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kenne das ja schon.

      FRITZ SIMONSie sind ja dabei, wenn sie trinken!

      MUTTEREben!

      FRITZ SIMONAber Sie haben ein bißchen Sorge.

      MUTTERIch sehe das als eine psychische Sache. Ich kann erkennen, daß dies eine Sucht ist. Ja, ich will sagen: Sucht. Es ist nicht Alkoholismus in dem Sinn, daß man Bier und Schnaps und alles in sich reintrinkt, aber es ist Sucht in Streßsituationen, um da eine Hilfe zu finden. Und ich nehme das als eine psychische Sache, als Krankheit, und versuche von meiner Seite, ihm hier weiterzuhelfen. Und das mache ich in Gesprächen, mit dem Wunsch, daß er offen zu mir ist, sich mir öffnet und mit mir darüber spricht. Und das ist in der Vergangenheit eben weniger gewesen!

      FRITZ SIMON(zum Sohn) Wer in der Familie sieht das denn so, daß Sie die Entscheidung haben, ob Sie etwas trinken oder nicht, und wer denkt, das ist, was weiß ich, irgendwie eine höhere Macht, eine psychische oder sonstige Krankheit? Was schätzen Sie?

      ERNSTIch schätze, höchstens mein kleiner Bruder …

      FRITZ SIMONWas denkt der? Daß es eine Sucht ist? … Ihre Entscheidung ist?

      ERNSTWas heißt Sucht? Er sagt, das ist Blödsinn. Und ich hör das auch so oft! Du bist doch intelligent. Du bist doch der einzige in der Familie mit Abitur. Das höre ich auch immer von den Ärzten: „Das haben Sie doch gar nicht nötig!“ Aber, gerade in diesen Situationen. Das war vorher nie! Ich habe das Abitur gemacht mit zwei Tagen Vorbereitung, weil ich einfach vorher gut gelernt hab. Ich habe mich intensiv darauf vorbereitet, bin ohne Angst reingegangen. Das war überhaupt kein Thema. Aber ich vermute halt auch, daß die Medikamente, die ich jetzt nehmen muß, sehr dazu beigetragen haben.

      FRITZ SIMONDa würde ich gern noch einmal nachhaken. Ich weiß nicht, ob das der wichtigste Punkt ist. Aber es ist ja offenbar wichtig, diese Prüfungsgeschichte, wenn ich Sie richtig verstanden habe. Denken Sie, es ist der wichtigste Punkt, oder gibt es noch andere wichtige?

      MUTTERNein, ich meine, das würde alle Probleme dann lösen, wenn dieser Punkt erreicht wird, daß er keine Prüfungsangst mehr hat, daß er die Streßsituation nicht mit einem Glas Sekt überbrücken muß, daß er sagen kann: „Ich kann das, und damit gehe ich in die Prüfung und fertig“.

      FRITZ SIMONNa ja, ich frag, weil wir ja nur eine begrenzte Zeit haben und wohl oder übel eine Auswahl treffen müssen. Deswegen würde ich gerne wissen, wenn wir nur ein Thema hätten, was wir hier behandeln, wär es dieses? Wäre das auch aus Ihrer Sicht (zum Sohn) das Wichtigste?

      ERNSTJa!

      SCHWESTERJa!

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      Das unmittelbare Ziel der Therapie soll also der Verlust der Prüfungsangst sein. Auch wenn jetzt viel Zeit darauf verwendet wurde, ist solch eine Festlegung nicht als verbindlich zu betrachten. In dieser Phase des Interviews zeigt sich ein Phänomen, das in fast jeder Therapie zu beobachten ist. Die Beteiligten nehmen irgendwelche Verhaltensweisen wahr (das Schluck-aus-der-Flasche-Nehmen), bewerten sie als „problematisch“, suchen nach einer Erklärung (Prüfungsangst) und versuchen dann, eine Lösung dafür zu finden. Würde man solch eine Isolation des Symptoms akzeptieren, läge es nahe, ein Trainingsprogramm für Prüfungsangst anzubieten. Das kann in vielen Fällen auch sinnvoll sein. Hier hören wir jedoch, daß Ernst früher nie Probleme mit Prüfungen hatte; insofern sind Erklärungen, die nahelegen, er hätte irgendein Lerndefizit, nicht sehr plausibel. Vielmehr muß erklärt werden, wie er seine Fähigkeit, locker und selbstbewußt in Prüfungen zu gehen, wieder verloren hat. Und der Verdacht liegt natürlich nahe, daß die schwere Krankheit, die Lebertransplantation und die nachfolgenden Schwierigkeiten, eine Stelle in seinem erlernten Beruf zu finden, das Selbstbild von Ernst massiv beeinträchtigt haben. Auch stellt sich die Frage, wie sich erklären läßt, daß er offenbar schon vor der Lebererkrankung verstärkt zum Alkohol gegriffen hat.

      Das hier benannte Ziel („keine Prüfungsangst etc.“) ist also eher als ein Symptom für eine veränderte Gesamtsituation zu verstehen. Es wäre – technisch betrachtet – sicher sinnvoll gewesen, das Verhalten ohne Prüfungsangst noch konkreter abzufragen. Denn derartige negative Zielformulierungen sind aus praktisch-therapeutischer Sicht immer ungünstig. Wenn ein Verhalten eine Zeitlang nicht mehr gezeigt wird, so kann man nie sicher sein, ob es nicht am nächsten Tag wieder auftritt. Das ist eine Schwierigkeit, die sich zum einen bei allen Symptomen zeigt, die als Ausdruck einer „Sucht“ interpretiert werden, und zum anderen bei abweichendem Verhalten. Es gibt in diesen Fällen kein positiv definiertes Merkmal der Unterscheidung für den Therapieerfolg.

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       Abb. 3: Veränderungsrichtung bei negativ definiertem Therapieziel

      Ein Vergleich mag diese Schwierigkeit illustrieren: Wenn jemand Klavier spielt und dies von seiner Umgebung oder auch ihm selbst als „Problem“ gesehen wird, so ist die Tatsache, daß er im Moment nicht musiziert, kein Beweis dafür, daß er nicht im nächsten Moment wieder in die Tasten greift. Wird der Erfolg hingegen positiv definiert, wird die Fähigkeit, den Flohwalzer auf dem Klavier zu spielen, als Merkmal der Unterscheidung für den Therapieerfolg bewertet, so ist das erstmalige und womöglich sogar einmalige Spielen dieses großen Stückes der europäischen Musikgeschichte der Beleg dafür, daß das Ziel erreicht wurde.

      Die therapeutische Schwierigkeit ist, daß solche negativen Zieldefinitionen unendlich viele Optionen und Freiheitsgrade eröffnen. Wenn man nicht weiß, wo man hin will, kann man auch nicht feststellen, ob man angekommen ist. Aber manchmal ist ja bekanntlich der Weg das Ziel … Das gilt allerdings im allgemeinen nicht für Kurztherapeuten.

       (Fortsetzung des Transkripts des Interviews mit Familie Bastian in Kapitel 4)

      4. Erklärungen / Dekonstruktionen und Konstruktionen / Die „positive Kraft des negativen Denkens“ (Familie Bastian, Teil 2)

      Die Reaktion der Familienmitglieder auf das Verhalten ihrer Angehörigen hängt zu einem guten Teil davon ab, wie sie es erklären und bewerten. Genauer gesagt: Die Art und Weise, wie das Verhalten erklärt wird, bestimmt, wie es bewertet wird, und die Art und Weise, wie es bewertet wird, bestimmt, wie es erklärt wird. Verhaltensweisen, die üblicherweise als „schlecht“, ja, manchmal gar als „kriminell“ bewertet werden, verändern ihre Bedeutung radikal, wenn sie als Ausdruck oder Symptom einer „Krankheit“ erklärt werden. Je nachdem, wie das Verhalten eines Familienmitglieds bewertet und erklärt wird, werden innerhalb der Familie andere Spielregeln angewandt. Von „Kranken“ verlangt man nicht, daß sie in die Schule oder zur Arbeit gehen; ganz im Gegenteil, sie haben – allgemein akzeptierten gesellschaftlichen Werten entsprechend – Anspruch auf Fürsorge und Rücksichtnahme. Wer hingegen einfach „aus freier Entscheidung“ beschließt, den Tag im Bett zu verbringen, hat mit den (neidischen?) Sanktionen seiner Mitmenschen zu rechnen.

      Wann immer ein Verhalten von den familiären Erwartungen abweicht (in der Familie Bastian z. B., wenn Ernst in Streß- und Prüfungssituationen einen Schluck aus der Flasche nimmt), werden von den Familienmitgliedern Hypothesen darüber erstellt, wie dieses Verhalten entsteht. Wenn biologische Mechanismen als ursächlich identifiziert werden, dann wird der Betreffende zum „Patienten“, dem weitgehend die Schuld und Verantwortung für sein Verhalten abgesprochen wird. Will man jemanden von Schuld und Verantwortung entlasten, so empfiehlt es sich also, ihn für „krank“ zu erklären. Er ist dann das „Opfer“

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