Das Prinzip Uli Hoeneß. Christoph Bausenwein
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Zum schlechten Betriebsklima gesellten sich unübersehbare Verschleißerscheinungen. Die Vielfachbelastung der letzten Jahre – Meisterschaft, DFB-Pokal, europäische Wettbewerbe sowie die Turniere der Nationalmannschaft inklusive Qualifikationsspiele – hatten nicht nur beim »Kaiser« ihren Tribut gefordert. Als Beckenbauer über nicht enden wollende Schmerzen in der Leistengegend klagte, wiegelte Lattek ab und sprach von einem Muskelkater, der sicher rasch wieder vergehe. »Ich hörte den Spott heraus«, kommentierte der in seiner Autorität angegriffene Bayern-Kapitän, »ich sah die Blicke, die er mit Uli Hoeneß und Paul Breitner wechselte. Ich wusste: Es gibt Ärger. Ich fühlte mich wie in einem Rudel von Wölfen. Ich stellte mir vor, dass es dort so sein müsste: Die Jungen sind es leid, die Führung des Leittiers zu akzeptieren, auch wenn es für alle nur ein Vorteil war, die Erfahrung, die Stärke des Alten, die den Erfolg bei der Jagd garantierten.«
Paul Breitner verabschiedete sich nach Madrid und prophezeite dem Klub eine schwere Zukunft. »Die Bayern sind satt.« Im Dezember 1974 musste der immer ratloser wirkende und mit Alkoholeskapaden auffällig gewordene Udo Lattek seinen Hut nehmen. Franz Beckenbauer, so der Bayern-Spieler Rainer Zobel, sei »nicht unmaßgeblich am Abschuss von Lattek beteiligt« gewesen. Sein Nachfolger Dettmar Cramer, zuvor Nationaltrainer der USA, war mit seiner professoralen Art ein gänzlich anderer Typ als der joviale und medienerfahrene Lattek. Er kam anfangs in München nicht sehr gut an. »Am Ende haben wir alle das Abitur, aber keine Punkte«, klagte ein verwirrter Wilhelm Neudecker, ehemaliger Maurerlehrling und aktueller Bayern-Präsident. Das mit dem Abitur klappte nicht, die Furcht vor zu wenigen Punkten hingegen war nicht unberechtigt. In der Rückrunde näherten sich die Bayern zwischenzeitlich sogar der Abstiegszone, am Ende wurden sie immerhin noch Zehnter, mit 26 Punkten Rückstand auf den Meister Borussia Mönchengladbach. Erfolgreich blieb die Cramer-Truppe allerdings im Europapokal. »Wir konnten uns nur noch bei Europapokalspielen zusammenreißen«, resümierte Uli Hoeneß die Situation. »Zwei Spiele, alle vier bis sechs Wochen – dazu reichte die Konzentration aus.« National ein Flop, europäisch top – so lautete das Motto der Bayern dieser Jahre.
An einem feuchten 23. Oktober 1974 trafen die Münchner im Achtelfinale des Landesmeister-Cups auf den 1. FC Magdeburg. Beim Hinspiel im Olympiastadion führte der Gast aus der DDR zur Pause mit 2:0, dann drehten die Bayern das Spiel durch zwei Treffer von Gerd Müller und ein Eigentor noch um. Zum Rückspiel nach Magdeburg reiste der FC Bayern mit eigenen Lebensmitteln und eigenem Koch an. Um zu erklären, was er gegen die ostdeutsche Küche habe, redete sich der paranoische Präsident Neudecker diesmal mit »Furcht vor Typhus« heraus. Das war natürlich eine Argumentation, die in der DDR erst recht als Provokation empfunden werden musste. Dem undiplomatischen Vorspiel folgte ein abgeklärter Auftritt im Stadion. Hoeneß leitete einen Freistoß von Beckenbauer per Kopf zu Zobel weiter, der flankte präzise auf Müller – Kopfball und Tor. Das war in der 22. Minute. Dem zweiten Bayern-Treffer eine halbe Stunde später ging wieder einer der unwiderstehlichen Hoeneß’schen Sololäufe voraus: Er umspielte zwei Gegner, ließ mit Glück auch noch den dritten stehen und flankte präzise auf Müller. Sparwasser verkürzte noch, aber das Spiel war entschieden.
Weiter ging es am Abend des 5. März 1975 gegen den sowjetischen Meister Ararat Erewan. Uli Hoeneß hatte vier Tage vorher im Ligaspiel gegen Wuppertal eine tiefe Risswunde an der Achillessehne davongetragen und beschwor den Klubarzt Dr. Tasnady, ihn mit allen Mitteln für dieses wichtige Spiel fit zu machen. »Das ist nach dem Ausscheiden aus dem Pokal und dem Abrutschen in den Bundesligakeller unsere letzte Chance«, begründete er sein Verhalten, »ich kann meinen Verein nicht im Stich lassen.« Noch am Vormittag hatte er starke Schmerzen. Trotzdem absolvierte er ein Lauftraining, am Nachmittag bekam er einen neuen Verband und das »Okay« des Arztes, dass er sich als Einwechselspieler bereithalten dürfe.
Uli Hoeneß kommt in der zweiten Halbzeit für Dürnberger aufs Feld, bewegt sich zunächst noch zögerlich, spielt dann aber immer besser mit. In der 77. Minute erreicht ihn ein Pass von Torstensson, und plötzlich ist von einer verletzungsbedingten Behinderung nichts mehr zu sehen. Hoeneß wirbelt wie ein Irrwisch durch die Reihen des Gegners und schießt auf das Tor. Der starke Ararat-Torwart Abramjan, der zuvor ein halbes Dutzend hervorragender Paraden gezeigt hatte, ist machtlos – der Ball schlägt unmittelbar neben dem rechten Pfosten ein. Der Torschütze jubelt so ausgelassen wie selten zuvor. »Das schönste Tor meiner Laufbahn!«, wird er später glückstrahlend erzählen.
Da Torstensson kurz darauf noch auf 2:0 erhöhte, fiel die 0:1-Niederlage im Rückspiel nicht ins Gewicht. Im Halbfinale mussten die Bayern bei der Association Sportive aus Saint Etienne antreten. Die Verhältnisse in der Bergarbeiterstadt im Südosten Frankreichs waren schwierig – an diesem 9. April war es winterlich kalt und der Rasen mit Schnee bedeckt –, die Franzosen angriffslustig, aber mit Kampfkraft und einem unüberwindbaren Sepp Maier ertrotzte man sich ein 0:0. Uli Hoeneß riss sich bei diesem Spiel den Meniskus an, aber da ihn die Verletzung nicht stark behinderte, beachtete er sie nicht weiter und stand zum Rückspiel zwei Wochen später wieder bereit. Bereits in der 2. Minute leistete er die Vorarbeit zu einem Klassetor von Beckenbauer, ein Solo von Bernd Dürnberger sorgte für das 2:0. Man hatte gewonnen, man war erneut im Finale – und doch waren die 74.000 Zuschauer im Olympiastadion mit ihrer Elf hörbar unzufrieden. Zu schönen Siegen war diese Mannschaft kaum mehr in der Lage. Selbst im Finale nicht.
Das Endspiel am 28. Mai 1975 in Paris sollte als das bis dahin hässlichste in die Geschichte des Europapokals eingehen. Die Hauptschuld trug dabei nicht einmal das unattraktive Ballgeschiebe des FC Bayern, sondern vor allem der brutale Gegner: Leeds United. Im Prinzenpark von Paris erwiesen sich die Engländer, die schon im Halbfinale gegen den FC Barcelona unangenehm aufgefallen waren, als knüppelharte Tretertruppe. Eines der Opfer war der bereits seit dem Spiel in St. Etienne angeschlagene Uli Hoeneß, und so wurde diese Partie zum Anfang des Endes seiner Karriere. Schon kurz nach dem Anpfiff trat Terry Yorath den am Boden liegenden Björn Andersson gegen das Knie. Der Schwede musste ausgewechselt werden und fiel anschließend fast eine ganze Saison aus. Uli Hoeneß wurde gleich dreimal böse gefoult, bis auch er noch vor dem Halbzeitpfiff vom Feld hinkte. Durch einen Tritt seines Gegenspielers Frank Gray hatte er sich eine Quetschung des Meniskus im rechten Knie zugezogen, und trotz zweimaliger Operation – eine am Innenmeniskus und acht Wochen später eine am Außenmeniskus – sollte er nie wieder vollständig genesen. Aber das konnte an diesem Abend natürlich noch niemand ahnen. Das Spiel selbst endete durch Tore von Franz »Bulle« Roth und Gerd Müller mit 2:0 für die Bayern, die damit ihren Titel im Europapokal der Meister verteidigt hatten.
Uli Hoeneß’ Verletzungspause dauerte vom 32. Spieltag der Saison 1974/75 bis zum 16. Spieltag der folgenden Saison. Am 6. Dezember 1975 kam er in der 71. Minute beim Spiel in Berlin gegen Hertha BSC für Franz Roth. Die Bayern lagen mit 1:2 zurück, und auch Hoeneß konnte daran nichts mehr ändern. Beim nächsten Spiel in Braunschweig (1:1) spielte er von Beginn an und wurde erst kurz vor Schluss ausgewechselt, danach kam er immer besser in Schwung und machte bis zum Saisonende alle Spiele mit. Am 20. März, beim 4:0 gegen Mönchengladbach, schien der Rückkehrer wieder ganz der alte zu sein: Er schoss zwei Tore und bekam vom Fachblatt »Kicker« für seine hervorragende Leistung die Note 1. Zum Abschluss der Bundesligasaison, an deren Ende die Bayern immerhin auf dem dritten Rang einliefen, hatte Uli Hoeneß 17 Spiele bestritten und vier Tore erzielt. Im Europapokal machte er ab den im März beginnenden