Das Science Fiction Jahr 2020. Группа авторов
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Die Zusammenführung der feministischen und aus Graphic Novels hervorgegangenen Frauenkonzepten geschah spät: Erst im neuen Jahrtausend finden sich in Independent- wie auch Mainstreamfiktionen starke, erotische Frauenfiguren in einer Vielfalt, die auch nichtbinäre Identitäten miteinschließt. Hervorhebenswert sind Neil Marshalls erste Filme, in denen er jeweils die Geschlechterrollen spiegelte: Dog Soldiers (2002) und The Descent (2005), sowie Doomsday (2008) und Centurion (2010). In The Descent – Abgrund des Grauens ließ er die Schauspielerinnen am Drehbuch mitschreiben, um Konflikte aus weiblicher Sicht zu erzählen. Auch Doomsday und Centurion bieten komplexe (Anti-)Heldinnen, die nicht nur Rollen umkehren. Ambivalente Kämpferinnen in sexy Outfits existieren im Horror seit den final girls der 70er, in der SF wurden sie u. a. durch Milla Jovovichs Alice in RESIDENT EVIL (2003 –) und Kristanna Løkens Terminatrix (Terminator III, 2003) etabliert. Eine perfekte Mischung aus 80er-Jahre-SF und postmodernem Feminismus ist der Film Blood Machines (2019) von Seth Ickerman (Raphaël Hernandez & Savitri Joly-Gonfard), der aus ihrem Musikvideo zu Carpenter Bruts »Turbo Killer« hervorging. Die Titelfiguren sind weibliche ghosts in the machine, eine Fusion aus Intellekt und fleischlichem Körper, deren Nacktheit Stärke, Sexualität und Verletzlichkeit vermittelt. Angelehnt an Blade Runner jagt der chauvinistische Kopfjäger Vascan Raumschiffe, deren KIs Selbstbewusstsein entwickeln; dabei zeigt sich ihr Tod als mystische Trennung von Körper und Geist. Vascan gerät in Konflikt mit den amazonengleichen Hüterinnen der Blood Machines; auch bietet ihm die KI seines eigenen Raumschiffes, Nancy, plötzlich sarkastisch Widerstand.
In seiner Dystopie Tonguecat (1999) löst der flämische Surrealist Peter Verhelst Zuordnungen von Frau, Mann, Opfer, Täter, lebendig oder tot auf; wechselt unvermittelt das Geschlecht des Ich-Erzählers, wobei sein Idiolekt unverändert bleibt. Die symbolhaft-assoziative Postapokalypse spielt im nuklearen Winter, in dem ein Krieg um die Freiheit entbrennt – dabei treten Antagonisten mal als Faschisten, mal als Feudalherrscher auf. Die Erzählerin Ursula schließt sich Titanen an, mythischen Halbwesen, die – wie Wolverine – an jeder Hand fünf Messerklingen tragen. Anfänglich naiv, findet Ursula in der rohen, leidenschaftlichen Beziehung ein eigenes Selbstverständnis und wird nach dem Tod des Geliebten selbst zur mörderischen Titanin. Wie die Protagonistinnen in Heroes and Villains, Dark Dance und Empire of the Senseless entwickelt sie in einer von Gewalt geprägten Beziehung eine Stärke, die weder rein klassisch heroisch noch rein feministisch ist.
Standbild aus dem Film Blood Machines. © Seth Ickerman, 2019
Repräsentation in Fiktion
Weibliches Schreiben und der Ausdruck von Frauenkörpern im kreativen Prozess verloren in den 2000ern durch den Einfluss von Transidentitäten bzw. Nichtbinären an Relevanz. Auch verloren Rollenzuweisungen (Butch/Femme) innerhalb der Lesbenszene an Zugkraft. An der Idee, dass alternativ lebende Individuen Opfer einer konservativ gedachten Gesellschaft wären, hat sich jedoch nicht viel geändert. Identitätskonzepte spalteten sich auf, Sozialstatus, Bildungshintergrund, biologisches und soziales Geschlecht, sexuelle Identität, Ethnizität bzw. kulturhistorische Zuordnung, physische oder psychische Befähigungen wurden in individuellen Rollenbildern verankert. Geblieben ist der Ruf nach einer realistischen Repräsentation all dieser Facetten. Das Konzept der Repräsentation in Fiktion ist dabei komplexer, als es scheint. David Peak schreibt: »[Der Film] stellt wichtige Fragen zu Identität und zur Konzeption von Realität durch das Bewusstsein, die Art, wie wir uns selbst anlügen, um uns wohlzufühlen mit dem, was wir sehen und was wir wissen – oder, in den Worten einer Figur, wie wir Erinnerung konstruieren, nämlich in dem Glauben, dass die Realität irgendetwas unserer persönlichen Wahrheit widerspiegelt: ›Auch wenn es falsch ist, ist es wahr‹. Letztlich ist – muss – alles, was wir sehen und wissen, die Wahrheit sein. So funktioniert eine Illusion der Wahrnehmung.«[6]
Es gab früh Ansätze, androgyne, nichtbinäre oder auch geschlechterparadoxe Figuren zu erzählen, wie im absurden SF-Krimi Hotel Zum verunglücken Bergsteiger (1973) der Brüder Strugatzki, in dem sich »das Kind« nicht nur Geschlechterrollen entzieht, sondern wie eine Erwachsene argumentiert, detektiert und raucht. In ihrem Die Schnecke am Hang (1978) trifft der Protagonist auf eine matriarchale Frauengemeinschaft, die Männer wie Vieh behandelt: »›Der kleine Bock da, der will was‹, sagte die Schwangere. Navas Mutter blickte auf Kandid. ›Was kann er schon wollen?‹, sagte sie. ›Die wollen doch dauernd essen. Es ist unbegreiflich, wozu sie so viel Essen brauchen. Sie arbeiten doch nichts …‹« Nur wenige Jahre später schrieb Ridley Scott mit Alien Filmgeschichte, als er Ellen Ripley die traditionell männliche Rolle des emerging hero zudachte. Auch finden sich in aktueller SF gegengeschlechtlich angelegte Figuren: Die Eisenbahn-Kapitänin in China Miévilles Railsea[6] (2012) verfolgt einen monströsen Albinomaulwurf ebenso manisch wie Ahab den weißen Wal in Moby Dick. Rainer Zuch wählt für Planet des dunklen Horizonts (2020) eine Ich-Erzählerin, die von der Entdeckung einer cthulhuiden Spezies auf Pluto in typisch Lovecraft’schem Duktus berichtet. Subtile Kritik an Geschlechterhierarchien übt der Kurzfilm The Occupant (2019), in dem eine junge Drohnenpilotin aus moralischen Gründen den Befehl ihres Offiziers verweigert, nur um herauszufinden, dass ein Alien seine Stimme imitierte und sie zur Zerstörung ihrer eigenen Basis verleiten wollte. Und Peter Høeg mag mit seiner Inuit-Heldin in Fräulein Smillas Gefühl für Schnee (1992) Campbells Who Goes There?[7] feministisch-antikolonial neu interpretieren.
Seit Alien: Resurrection (1997) werden auch im Mainstream komplex aufgesplittete Figuren präsentiert. Der neue DOCTOR WHO tendiert v. a. seit dem 12. Doctor weg von serientypischen Thematiken hin zu politischen Statements: War der erste Doctor noch ein zynisch-misanthropisches Alien mit extraterrestrischer Begleiterin, ist er 2018 eine Time Lady, deren Crew sich aus verschiedensten kulturellen und sexuellen Identitäten zusammensetzt. THE WAR OF THE WORLDS (BBC 2019) behandelt die Alieninvasion nebenbei, gibt Frauenemanzipation und neuen Partnerschaftskonzepten den Vorrang. DOCTOR WHO funktionierte in den 60ern ohne klassische Identifikationsfiguren, verliert aber aktuell Publikum – auch solches, das sich alternativen Identitäten zurechnet. Inwieweit ist Repräsentationspolitik nicht nur in Sozialdramen sinnvoll, sondern auch in der SF?
Derrida beschreibt Repräsentation als einen Balanceakt, wobei über Konzepte (bzw. Identitäten) lediglich durch Objektivierung und Reduktion gesprochen werden kann: Wenn Bedeutung das Fortbestehen von ›Bedeutungs-Inhalten‹ über Zeit und Raum hinweg beinhaltet, heißt dies für Derrida, dass »jedwede Bedeutung unmöglich identisch mit ihrer Vergangenheit oder ihren zukünftigen Iterationen sein kann.« Derridas These impliziert, dass das Denken eher seine eigene Vergänglichkeit verhandelt, als diese zu transzendieren, und zeigt weiter, dass die Reduktion des Anderen unumgänglich ist. »Es gibt keine Äußerung«, sagt Derrida, »die nicht die Gewalt des Konzeptes durchlaufen muss.«[7] Ein innovativer, SF-adäquater Ausblick könnte darin bestehen, den kreativen Prozess von Ungerechtigkeiten und Verletzungen zu lösen. Finnland bzw. die nordischen Länder sind ein gutes Beispiel für Toleranz und historisch gewachsene Egalität; Feminismus ist auch für (jüngere) Männer selbstverständlich. Die SF ist frauendominiert, Werke von z. B. Tiina Raevaara oder Johanna Sinisalo zeichnen sich durch neutrale Erzähler_innen aus, ähnlich denen Lems, Gluchowskis oder der Strugatzkis. Michael K. Iwoleit schreibt: »In vielen der besten modernen SF-Storys sind die Figuren erkennbar als Platzhalter, nicht als psychologisch ausgefeilte Charaktere konzipiert. Der Leser nimmt ihre Position ein. Die differenzierten menschlichen Reaktionen auf das, was ihnen zustößt, sind eher seine eigenen.«[8]
Repräsentation | Transgression
Detaillierte Aufspaltungen in diskriminierte, unterrepräsentierte Identitäten und die seit den 2000ern oft an Quotenregelungen gemahnenden Literaturentwürfe und Filmcastings bieten eine größere Bandbreite an Charakteren, erwecken aber den Eindruck, dass das Genre lediglich neue Klischees und Rollenzuweisungen schafft. Angelehnt an Derridas Hauntology spukt eine beklagenswerte Diskriminierungsvergangenheit durch die Praxis der Repräsentation. Um es mit dem brasilianischen Künstler Saint Clair Cemin auszudrücken: »Wenn es Ziel der Moderne war, das alte