Das Science Fiction Jahr 2020. Группа авторов

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Das Science Fiction Jahr 2020 - Группа авторов

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gesammelt, manche davon sind auch im Grenzbereich zwischen Fantasy und SF angesiedelt.

      JY Yangs The Black Tides of Heaven schildert eine »Silkpunk«-Fantasywelt, in der sich Spiritualität und Technik ergänzen. Die Zwillinge Mokoya und Akeha müssen sich in den politischen Wirrungen ihrer Welt und besonders denen ihrer Mutter zurechtfinden. In dieser Welt wird bei der Geburt kein Geschlecht zugewiesen, sodass alle Kinder später selbst äußern können, wie sie sich identifizieren. Akeha fühlt sich lange wohl mit der nichtbinären Identität der Kindheit. Der Wermutstropfen: Kein Charakter behält das nichtbinäre Geschlecht das ganze Buch hindurch.

      Ich vergleiche ungern Autor*innen mit bereits toten Autor*innen, aber ich halte es für gut möglich, dass Kameron Hurley das für unsere SF-Ära darstellt, was Joanna Russ für die 1970er bedeutete. Die Autorin, die auch in The Geek Feminist Revolution über Geschlechterrollen, Science Fiction und Gesellschaft und auch eigene Selbstzweifel und Selbstfindung in einer heteronormativen Welt spricht, stellt in ihren Romanen und Kurzgeschichten immer wieder Geschlecht und die Art und Weise, wie wir darüber sprechen und denken, infrage. In ihrem The Mirror Empire entwirft Kameron Hurley eine Fantasywelt, in die durch interdimensionale Storyelemente auch Science Fiction hineinspielt. In dieser Welt prallen die Definitionen von Ethnie und Geschlecht verschiedener Gesellschaftsformen aufeinander. Eine der Hauptfiguren, Taigan, ist genderfluid und benutzt insgesamt drei verschiedene Pronomen (she/her, he/his und ze/hir). Viele Kulturen in ihrem Roman kennen drei oder mehr Geschlechter und nutzen Neopronomen selbstverständlich und in einem sich natürlich anfühlenden Sprachfluss. Menschen einfach ein Geschlecht zuzuweisen und ihnen damit die Möglichkeit zu nehmen, sich selbst zu definieren, ist in den meisten dieser Gesellschaftsformen verachtenswert. Auch Nebenfiguren in The Mirror Empire sind nichtbinär, wodurch der Roman eine große Varianz von nichtbinärer Identität zeigt und nicht in die Falle der stereotypen Darstellung tappt.

      James Alan Gardners All Those Explosions Are Someone Else’s Fault ist eine Superheld*innen-Story, bei der die ich-erzählende Hauptfigur weiblich gelesen aufwuchs und sich immer mehr mit einer nichtbinären Identität wohlzufühlen beginnt, bis ihre Superheld*innenpersona schlussendlich offen nichtbinär ist. Gardner schrieb außerdem Commitment Hour über eine kleine Gemeinschaft, in der Kinder zwischen männlich und weiblich wechseln, bis sie sich im Erwachsenenalter für einen »Pol« entscheiden. Es wird recht früh auch ein nichtbinärer Charakter eingeführt, und Nichtbinärität erweist sich als relevant für die Handlung.

      Wie JY Yang ist auch Rivers Solomon nichtbinär. Solomons Roman An Unkindness of Ghosts zollt Octavia Butlers LILITH’S BROOD Tribut: 325 Jahre lang reist die H. S. S. Matilda durchs All. Die Arbeiter*innen an Bord (größtenteils People of Color) sind unzureichend gegen die kosmische Strahlung abgeschirmt, sodass sich ihr Erbgut verändert. Sie entwickeln dadurch eine größere Geschlechtervarianz, als die weiße Oberschicht an Bord überhaupt erfassen kann. Auch Hauptperson Aster ist nichtbinär und geht den Geheimnissen des Schiffs mit dem Tagebuch der Mutter auf den Grund.

      Lizard Radio von Pat Schmatz schildert ein genderqueeres Teenagerleben in einer dystopischen Zukunft. Das Findelkind Kivali gerät in die Mühlen eines Indoktrinationscamps der Regierung. Im Roman geht es auch um den gesellschaftlichen Druck, sich durch Äußerlichkeiten an ein binäres Geschlecht anzupassen.

      KJ Charles thematisiert Genderfluidität im Science-Fiction-Grenzfall der Steampunk-Romance (zum Beispiel in An Unsuitable Heir).

      Und zuletzt sei hier noch Tilly Waldens sehr schöne SF-Graphic Novel On a Sunbeam genannt, in der eine queere Familie in einem Raumschiff unterwegs ist. Die Geschichte thematisiert Nichtbinärität als einen Aspekt von Queerness, dreht sich um Zeit, Liebe, sexuelle Orientierung und Familie ohne Blutsbande.

      Nichtbinäre Science-Fiction-Autor*innen

      Gute Repräsentation steht und fällt mit den Menschen, die sie schreiben. Das Schreiben ist an sich immer ein politischer Akt, denn Schreibende erschaffen fiktive Wirklichkeiten, die Aussagen über die Realität treffen. Daher ist kein Text je neutral und ohne »Agenda«.

      Jeder Science-Fiction-Roman, der eine zukünftige Gesellschaft mit binären Geschlechterrollen schildert, zementiert die gerade existenten binären Geschlechterrollen. Oft reproduzieren wir den Status quo natürlich unbewusst – er hat ja uns alle unser ganzes bisheriges Leben hindurch begleitet und lag den meisten Geschichten inne, die wir erzählt bekommen haben. Umso wichtiger ist es, sich umsehen zu lernen. Was gibt es außerhalb des Bekannten? Was gehörte bisher »outside belonging«?

      Geschlecht und Identität sind ein vielschichtiges und vielfältiges Thema. Es gibt nicht das »dritte« Geschlecht, und es gibt nicht die eine korrekte Beschreibung, die ich dann als Autor*in von der Checkliste streichen kann. Um darüber zu sprechen und zu schreiben, was Geschlechtervielfalt in der Science Fiction bedeutet, müssen wir das Wort auch den Autor*innen überlassen, die selbst nichtbinär sind. Das ist nicht immer ganz einfach. Wie weiter oben bereits erwähnt, ist das oft keine Identität, über die sich eine Person bereits ihr ganzes Leben im Klaren ist. Viele haben dieses Vokabular erst in den letzten Jahren, seit das Thema etwas populärer geworden ist, erhalten. Viele haben bereits unter einem Namen veröffentlicht, der allgemein einem Geschlecht zugeordnet wird, und behalten diesen Namen auch weiterhin – oder andersherum: wählen einen neutral klingenden Namen, um Diskriminierung zu vermeiden. Das heißt, dass es unmöglich ist, anhand des Namens aufs Geschlecht zu schließen. Um nichtbinäre Autor*innen zu lesen, gilt dasselbe wie bei allen anderen Marginalisierungsformen: Wir müssen uns mit den Personen beschäftigen, deren Bücher wir lesen. Eine Politisierung der Auswahl unserer Lektüre ist die einzige Möglichkeit, die sogenannten »own voices«, also Autor*innen, die aus eigener Perspektive über Marginalisierung berichten, beim Lesen zu berücksichtigen.

      Für diese Auswahl brauchen wir auch korrekte Online-Einträge. Am zuverlässigsten ist natürlich, was Autor*innen beispielsweise in Twitter- und Instagram-Bios und auf Websites über sich selbst aussagen. Doch auch Online-Nachschlagewerke sind eine wichtige Quelle. Dazu muss jedoch der Wille der Verfassenden da sein, auch dort Sichtbarkeit zu schaffen. Annalee Newitz beispielsweise nutzt seit 2019 nichtbinäre Pronomen und wurde in der englischsprachigen Wikipedia bereits mit dem gewünschten Pronomen »they« bezeichnet. Die deutschsprachige Wikipedia bezog sich noch in der weiblichen Form auf Newitz und reagierte im April 2020 mit vehementem Protest gegen mehrere Versuche der Umformulierung (die mittlerweile allerdings, auch durch die Mithilfe von Newitz selbst, angenommen wurde).

      Der Widerstand gegen die nichtbinäre Umformulierung des Eintrags zeigt, dass noch einiges getan werden muss. Als fiktive Aliens und Cyborgs lässt man sich Nichtbinärität vielleicht noch gefallen, aber noch lange nicht bei realen Menschen. Biologistische Einwände verkommen schnell zu transfeindlichen Argumenten – sobald Dritte beginnen, über Geschlechtsorgane einer realen Person zu spekulieren, sollte allen deutlich sein, dass Nichtbinärfeindlichkeit Hand in Hand geht mit Transfeindlichkeit. Denn Geschlecht ist nicht an Anatomie festzumachen. Wenn eine Diskussion ums korrekte Gendern eines realen Menschen in einem Online-Nachschlagewerk zu Mutmaßungen über Reproduktionsorgane verkommt, wird klar, worum es eigentlich geht: um die Deutungshoheit über Menschen, um Diskriminierung und Präskription von gesellschaftlichen Rollen.

      Annalee Newitz ist nicht die einzige nichtbinäre Person, die Science Fiction schreibt. Weitere nichtbinäre Autor*innen sind beispielsweise Sarah Gailey, Rivers Solomon, JY Yang, Kacen Callender, Akwaeke Emezi, Jeannette Ng, Sarah Stoffers und im Comic-Bereich Blue Delliquanti und Ben Kahn – aber diese Liste ist natürlich nicht erschöpfend. Je mehr Vokabular wir haben, desto mehr Menschen werden Worte für die eigene Identität finden. Die Aufgabe der Zukunft ist nicht, Geschlecht komplett abzuschaffen, wie manche scheinbar progressiv bei Diskussionen um Geschlechtergerechtigkeit fordern, sondern Vielfalt anzuerkennen und als gleichwertig anzusehen.

      Schreibende haben die Gelegenheit, nein, sogar die Verantwortung, das Konstrukt von Geschichten mit Lebenswirklichkeiten verschmelzen zu lassen. Um dem gesellschaftlichen

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