Das Science Fiction Jahr 2020. Группа авторов

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Das Science Fiction Jahr 2020 - Группа авторов

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der die Existenz von nichtbinären Geschlechtern zumeist leugnet, wo immer es geht. In welchem anderen Genre ist es möglich, Geschlecht anders zu definieren und neue Varianten des Zusammenlebens zu finden, die nicht auf einer binären Einteilung in zwei Geschlechter beruhen, die zugleich zwei gesellschaftliche Klassen etabliert haben?

      Doch der erste Schritt in Richtung einer Gesellschaft, die mehr als zwei Geschlechter kennt, scheint einen Schlenker über das Fremde und Nichtmenschliche zu erfordern. Nichtbinäre Figuren existieren – jedoch neben menschlichen Männern und Frauen; als KIs, Aliens und Roboter. Beispielsweise die genderfluiden Aandrisk in Becky Chambers’ WAYFARER-Saga durchlaufen, ähnlich wie die (generisch männlich beschriebenen) Gethenianer in Le Guins Die linke Hand der Dunkelheit, andere geschlechtliche Zyklen und bewegen sich auf einem Spektrum zwischen männlich und weiblich.

      Die Pflanzenspezies der Floryll in Bernd Perplies’ Am Abgrund der Unendlichkeit sind zweigeschlechtlich, sodass Perplies ein Neopronomen aus den deutschen Pronomen zusammengesetzt hat.

      Breq, die Perspektivfigur aus Ann Leckies Die Maschinen, erzählt im generischen Femininum. Breq selbst, eine Schwarm-KI, die durch unglückliche Umstände in einem einzigen Körper gelandet ist, ist jedoch nicht weiblich. Auch »Murderbot« aus Martha Wells Tagebuch eines Killerbots ist ungeschlechtlich und stellt generell menschliche Kategorien infrage. (Im Roman tauchen aber auch menschliche nichtbinäre Nebenfiguren auf!)

      Octavia Butler hat in ihrer LILITH’S BROOD-Trilogie bereits in den 1980ern einen Wandel zu einer nichtbinären Erzählperspektive vorgenommen, wenn sie auch das Außerirdische als Katalysator dafür nutzt: Lilith, die Hauptperson des ersten Bands, lernt die drei Geschlechter der außerirdischen Oankali kennen, und ihr Sohn, der Protagonist des dritten Bandes Imago, transformiert dank außerirdischer Gene zum Ooloi genannten dritten Geschlecht und bietet somit eine menschliche Identifikationsfigur auf dem Weg zu einer neuen Identität.

      Viele nichtbinäre Menschen kennen einen solchen Weg: Es fehlten lange das Vokabular und der gesellschaftliche Platz, um das gespürte Nichtdazugehören in Worte zu fassen und zu begreifen. Doch einen eigenen Platz zu behaupten ist oftmals lebenslange Arbeit, und dabei hilft es natürlich nur begrenzt, auf fiktive Aliens, Roboter und Menschen mit Aliengenen deuten zu können.

      Nichtbinär als menschliche Identität

      Ich kann nachvollziehen, dass etwas, das in unserer Gesellschaft sehr lange nicht akzeptiert und daher als nicht existent markiert wurde, den Umweg über das Erfundene, das Fremde gehen muss, bevor es vertrauter wird. Doch diese Übertragung von »Belonging outside belonging« auf Außerirdische und KIs ist nur als erster Schritt hilfreich. Während im Englischen sogar schon bei Shakespeare das Singular-»they« zur Beschreibung eines geschlechtlich nicht definierten Charakters genutzt wird, gibt es in der deutschen Sprache keine Pronomen für nichtbinäre Geschlechter – »es« empfinden die meisten Menschen durch die Versachlichung als abwertend. Viele nichtbinäre Menschen nutzen Neo-Pronomen, wie z. B. xier oder sier. Dass diese Neo-Pronomen akzeptiert und in der Alltagssprache verwendet werden, ist jedoch noch Science Fiction. An Neo-Pronomen entzünden sich immer wieder auch in der Verlagswelt Diskussionen, die letztlich genau auf die oben erwähnte Nicht-Akzeptanz und unterstellte Nicht-Existenz herauslaufen. Meine erste Begegnung mit Neo-Pronomen fand in der Science Fiction statt: Ein nur auf wenigen Seiten vorkommender Nebencharakter in Chuck Wendigs STAR WARS-Trilogie NACHSPIEL nutzt im englischen Original das Neo-Pronomen »zhe«. In der deutschen Übersetzung wird der Charakter – vermutlich der viel beschworenen »Lesbarkeit« geschuldet – weiblich gegendert, und das ist symptomatisch.

      Die Ablehnung von Neo-Pronomen in der Prosa, in journalistischen Texten und generell im Schriftdeutsch hat noch eine weitere Kehrseite: Dadurch, dass wir sie nur sehr selten lesen, fühlen sie sich (noch) wie Fremdkörper in der Sprache an und markieren damit in fiktiven Texten Figuren als »anders«, als Abweichler*in, oft genug sogar als Nicht-Mensch. Sie sagen letztlich meist: »Sieh, wie fremd diese Kultur/Alien-Spezies ist, sie hat mehr als zwei Geschlechter!«

      Aber nichtbinäre Menschen existieren, und wir möchten uns in der Fiktion, die wir lesen, auf positive, realistische, vielfältige und vor allen Dingen menschliche Weise repräsentiert sehen. Für viele von uns ist Fiktion und vor allen Dingen Science Fiction das einzige Fenster, das uns einen Einblick in uns selbst bietet. SF bietet das einzige Vokabular, um zu lernen, sich selbst zu beschreiben. Viele von uns nutzen nach wie vor binäre Pronomen, tragen geschlechtsspezifische Kleidung und Frisuren und sind nicht »out« – werden also gesellschaftlich auch nicht wahrgenommen, weil Geschlecht immer noch stark am Aussehen festgemacht ist. Anfeindungen sind die Konsequenz für alle, die »out« sind, nichtbinäre Pronomen nutzen oder gar Berücksichtigung in Formularen und Bürokratie wünschen.

      Eine Gesellschaft, die Nichtbinärität nicht sehen will, für unnatürlich (wie Roboter) oder gar ausgedacht (wie Außerirdische) hält, ist einschüchternd und enthält Vokabular und Erkenntnisse vor. Die wenigsten von uns sind sich seit frühster Kindheit sicher, nichtbinär zu sein – wie auch? Wie kann man etwas sein, das es gar nicht gibt, das die Gesellschaft nicht als existent zurückspiegelt? Nichtbinärität ist ein langes, vielleicht lebenslanges Auseinandersetzen mit der eigenen Identität und dem Geschlechterkonstrukt unserer Gesellschaft, dem Nicht-aufgehoben-Fühlen in den beiden vorhandenen obersten Schubladen. Science Fiction kann Menschen Vokabular und Freiheit geben, ebenso wie eine Inklusion in Sprache und Schrift. Gendersternchen, Gendergap und der zum Beispiel in Lübeck amtliche Doppelpunkt lassen eine freie Stelle für Identitäten jenseits des Binarys, und mit dem sogenannten glottalen Verschlusslaut lassen sich Menschen, die inter*, nichtbinär, geschlechtslos oder auf andere Weise nicht von der männlichen und weiblichen Form »mitgemeint« sind, aussprechen. Dass diese Formen der Aussprache und des Ausschreibens das althergebrachte Machtgefüge stören, ist an den zahlreichen Formen des Widerstands gegen solche Bemühungen in deutscher Sprache und Schrift zu spüren.

      Die Science Fiction der Sprache

      Das Englische bietet mehr Möglichkeiten, geschlechtergerecht zu formulieren. Beispielsweise ist Kameron Hurleys The Light Brigade konsequent so formuliert, dass das Geschlecht der ich-erzählenden Hauptfigur Dietz nicht deutlich wird. (Ein Clou, der in einer deutschsprachigen Übersetzung spätestens bei Anreden wie »Soldier!« schwierig würde, ich wäre gespannt darauf, wie es umgesetzt wird.)

      Aber nur, weil es schwerer ist, heißt das nicht, dass wir nicht im Deutschen umso phantasievoller sein können. Ja, bitte auch in der Literatur, der Prosa, auch in der Science Fiction. Kreative Sprache ist nicht lästig, sondern hat spekulatives Potenzial! Das generische Femininum in Ann Leckies Die Maschinen ist in der deutschen Übersetzung sehr viel prominenter als im Englischen und wirkt sich auch anders auf die Rezeption des Buchs aus. Selbst hintergründige geschlechtergerechte Sprache wie in meinem und Christian Vogts Wasteland ruft die Verteidiger*innen einer unveränderbaren deutschen Sprache auf den Plan. Geschlechtergerechtigkeit, die über das großzügige Mitnennen der weiblichen Form hinausgeht, rüttelt am Machtgefüge einer streng binär geteilten Welt. Und deshalb ist sie so wichtig.

      Romane bilden mit ihrer beschreibenden Sprache einen wichtigen Startpunkt für menschliche nichtbinäre Repräsentation. Während in visuellen Medien wie Filmen und Serien das Vorhandensein und die Darstellung von nichtbinären Charakteren meist auf sichtbare »Androgynität« beschränkt sind, bieten Romantexte weit mehr Möglichkeiten, Figuren jenseits des binären Gefüges vielfältig darzustellen und sogar die Körperlichkeit als optische Kategorie zu umgehen.

      Die Genderqueerness der Zukunft

      Trotz alledem wird nach wie vor in den meisten Geschichten und, ja, auch den meisten Science-Fiction-Geschichten die Menschheit als aus Männern und Frauen bestehend beschrieben. Es gibt nur eine Handvoll SF, die gute nichtbinäre Repräsentation bietet, und das meiste davon ist nur auf Englisch erschienen. Erfreulich häufig tauchen sie in den letzten Jahren als Nebencharaktere auf, wie in Charlie Jane Anders’ Alle Vögel unter

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